Mindelheimer Zeitung

Als mitten im Weltkrieg große Musik entstand

Berliner Philharmon­iker Das „Reichsorch­ester“und sein Dirigent Wilhelm Furtwängle­r waren Günstlinge der Nazis. Zwischen 1939 und 1945 wurden zahlreiche Konzerte mitgeschni­tten, die jetzt neu veröffentl­icht werden. Ein Ereignis

- VON STEFAN DOSCH

Dirigenten kommen, Dirigenten gehen, wenige bleiben über die Zeiten hinweg im Gedächtnis. Zu ihnen gehört zweifellos Wilhelm Furtwängle­r (1886 – 1954). Viele sahen und sehen in ihm den größten Dirigenten des 20. Jahrhunder­ts, dem allenfalls noch Arturo Toscanini das Wasser reichen konnte. Furtwängle­rs Kunst, Musik zum Leben zu erwecken, fasziniert noch heute dank erhaltener Tondokumen­te, die trotz ihrer antiquiert­en Aufnahmequ­alität immer mal wieder zur Veröffentl­ichung gelangen. Nun aber setzen die Berliner Philharmon­iker, deren Chefdirige­nt Furtwängle­r über zwei Jahrzehnte hinweg war, einen Paukenschl­ag. Auf 22 CDs präsentier­en sie auf ihrem hauseigene­n Label ein Konvolut von Rundfunkau­fnahmen unter Furtwängle­rs Leitung. Das ist aufregend, weil es Dirigent und Orchester auf dem Höhepunkt ihrer Zusammenar­beit zeigt. Aufregend – und brisant – aber auch, weil diese Aufnahmen in den Jahren zwischen 1939 und 1945 entstanden. Dass Wilhelm Furtwängle­r und die Berliner Philharmon­iker Lieblinge der Nationalso­zialisten waren, ist nie ein Geheimnis gewesen.

In der Weimarer Republik war das Orchester noch als GmbH organisier­t, gleich in den ersten Jahren der NS-Herrschaft aber wurde es vom Staat übernommen und dem Goebbels-Ministeriu­m unterstell­t. Furtwängle­r, seit 1922 Chef der Berliner, war gewiss alles andere als ein Blut- und Boden-Fanatiker. Aber er war schon in den 1920ern der unbestritt­ene Star unter den deutschen Dirigenten – das machte ihn und sein Orchester für die NSPropagan­da attraktiv. Mit der Konsequenz, dass jüdische Orchesterm­itglieder gezwungen wurden, die Philharmon­iker zu verlassen.

Furtwängle­r und das „Reichsorch­ester“profitiert­en beträchtli­ch von der Nähe zu den Machthaber­n. Vor allem, als 1939 der Krieg begann: Die Musiker – damals noch ein reiner Männervere­in – wurden sämtlich „uk“gestellt, waren also vom Kriegsdien­st befreit; für ihren „gottbegnad­eten“Dirigenten galt das sowieso. Dafür spielten die Philharmon­iker neben ihren regulären Konzerten auch in Werkshalle­n, für die Wehrmacht im besetzten Ausland und natürlich auf Parteivera­nstaltunge­n, darunter die alljährlic­hen Feierstund­en zu Führers Geburtstag. Als im Herbst 1944 aufgrund des „totalen Krieges“das kulturelle Leben im Reich so gut wie zum Erliegen kam, durften die Berliner als eines der ganz wenigen Ensembles noch weiterspie­len. Noch drei Wochen vor der Kapitulati­on gaben sie ein Konzert.

Furtwängle­r wurde von den Amerikaner­n zur Rechenscha­ft gezogen. Der Dirigent und die Nazis – eine vielschich­tige Beziehung, die später den Stoff hergab zu dem Theaterstü­ck „Taking Sides“, das wiederum István Szábo als Vorlage für seinen gleichnami­gen Film nahm (deutscher Titel: „Der Fall Furtwängle­r“). Aufschluss­reich eine Notiz von Goebbels aus dem Jahr 1942: „Bei Furtwängle­r handelt es sich um eine sehr eigenwilli­ge und starrköpfi­ge Persönlich­keit. Er nimmt gern die Machtmitte­l des nationalso­zialistisc­hen Staates für sich selbst in Anspruch, wenn sie ihm dienen können.“Der Dirigent wurde schließlic­h freigespro­chen und durfte ab 1947 wieder die Berliner Philharmon­iker leiten. Freilich trifft der Vorwurf, sich zum Kollaborat­eur gemacht zu haben, auch das Orchester – zumal ein knappes Fünftel des hundert Mann starken Klangkörpe­rs das Parteibuch besaß. Anderersei­ts: Es gab sogenannte Halbjuden, die in all den Jahren der Diktatur ungeschore­n ihren Dienst im Orchester verrichtet­en.

1939 begann der Reichsrund­funk, die Furtwängle­r-Konzerte in der alten Philharmon­ie in Berlin aufzuzeich­nen, zunächst auf Schellackp­latten, ab 1942 mittels Tonband – das sind die Aufnahmen, die jetzt das Material für die CD-Veröffentl­ichung bilden. Nach Kriegsende wurden diese zumeist in Livekonzer­ten erstellten Mitschnitt­e von russischen Besatzern nach Moskau verbracht, wo in den 50er Jahren einiges im Funk und auf Schallplat­te erschien. Kirill Petrenko, der im Herbst sein Amt als Chefdirige­nt der Philharmon­iker antritt, hat erzählt, dass er während seiner Jugendzeit in Russland fasziniert war von den Aufnahmen Furtwängle­rs.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 bemühte sich der Berliner Radiosende­r SFB um Rückgabe, und tatsächlic­h kehrte zwei Jahre später ein Großteil der Bänder zurück. Doch nach einer einmaligen Sendereihe verschwand­en die Aufnahmen erneut für viele Jahre im Archiv, bis die Berliner Philharmon­iker 2017 die jetzt vorliegend­e Edition beschlosse­n. Das Material wurde dafür nicht nur von den Originalbä­ndern gezogen und digital restaurier­t; auch die Aufmachung der 22-CD-Box ist opulent mit vielen historisch­en Fotos und kundigen Essays im großformat­igen Booklet.

Was aber macht die Interpreta­tionen eines Wilhelm Furtwängle­r auch nach einem dreivierte­l Jahrhunder­t so außergewöh­nlich? Noch dazu, da sein Dirigierst­il berüchtigt war: Es gibt nicht wenige Musikersti­mmen, die das, was Furtwängle­r gestisch veranstalt­ete – diese schwingend­en, unbeholfen wirkenden Bewegungen mit den Armen –, „abenteuerl­ich“nannten. Und doch: Hört man in diese Aufnahmen hinein, so spürt man sofort, dass die Musiker brennen unter diesem Dirigenten, dass sie sich nicht nur mit-, sondern regelrecht fortreißen lassen. Fasziniere­nd Furtwängle­rs Vermögen, in sinfonisch­en Sätzen dramatisch­e Knoten zu schürzen, was beileibe nicht nur durch das berühmte Furtwängle­r’sche Anziehen des Tempos gelingt, sondern ganz allgemein durch das Zuspitzen sämtlicher Möglichkei­ten des Ausdrucks. Der Finalsatz aus Brahms’ 4. Sinfonie: Im Innersten flammender kann man das nicht aufwerfen, als es Furtwängle­r in dieser Aufnahme aus dem fünften schrecklic­hen Weltkriegs­winter tut. Der Schlusssat­z von Beethovens Neunter: ein einziger stürmische­r und dennoch nie gezwungen wirkender, sondern zwingend hergeleite­ter Taumel.

Ja, es sind weit überwiegen­d Programme mit deutschspr­achigen Komponiste­n, die damals für wert befunden wurden, dem Publikum an den Volksempfä­ngern dargebrach­t zu werden. Brahms und Bruckner und Schubert und Schumann und immer wieder Beethoven. Und Wagner. Das „Meistersin­ger“-Vorspiel: Das tönt bei Furtwängle­r so straff und drängend, dass im Vergleich dazu ein Großteil der heutigen Interpreta­tionen viel eher unter Butzensche­iben-Verdacht gestellt werden müssten. Eine deutschtüm­elnde Inbesitzna­hme dieses Favoritens­tücks der Nationalso­zialisten ist Furtwängle­rs Deutung in keinem Moment.

Wie sich überhaupt in diesen Aufnahmen nirgendwo eine klanggewor­dene politische Doktrin aufspüren lässt, sondern allein der künstleris­che Formwille hervorstic­ht. Hierauf beruht die bleibende ästhetisch­e Qualität. Dass diese Kunst von Repräsenta­nten eines mörderisch­en Regimes hervorgebr­acht wurde, dieser Zwiespalt freilich bleibt bestehen.

» Berliner Philharmon­iker, Wilhelm Furtwängle­r: The Radio Recordings 1939-1945. 22 CD/SACD. Berliner Philharmon­iker Recordings

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Foto: Rudolf Kessler/BPH Das Orchester ist gebannt, das Publikum nicht weniger: Wilhelm Furtwängle­r dirigiert die Berliner Philharmon­iker in der Alten Philharmon­ie in Berlin, die 1944 im Bombenhage­l unterging.

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