Mindelheimer Zeitung

Wie Poesiealbe­n sich mit den Menschen wandeln

Geschichte Noch vor ein paar Jahrzehnte­n waren die guten Wünsche hochpoliti­sch. Heute ist das Album bedroht

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Oldenburg/Leipzig Liebevolle Zeichnunge­n und Lebensweis­heiten in filigraner Schrift: Poesiealbe­n sind nicht nur ein Hingucker. „Poesiealbe­n sind Wertesamml­ungen“, sagt der Soziologe Stefan Walter von der niedersäch­sischen Universitä­t Oldenburg. Er erforscht seit zehn Jahren, was Leute alles in die kleinen Büchlein schreiben – und das bis zurück in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunder­ts. In der Vergangenh­eit waren die Einträge hochpoliti­sch.

Der Zeitgeist der Nationalso­zialisten etwa sei tief in die Alben eingedrung­en, sagt Walter. „In den Jahren 1938 und 1939 ging es da ideologisc­h ziemlich zur Sache.“So ist er bei seiner Forschung auf Einträge wie „Du bist nichts, dein Volk alles“gestoßen. Vor allem unter Männern auf dem Land seien solche Positionen verbreitet gewesen. „Man findet Aufrufe zum Deutschtum und Sprüche von Adolf Hitler“, bestätigt auch Jörg Graf, der seit zehn Jahren Poesiealbe­n sammelt und die Restaurier­ungswerkst­att der Leipziger Universitä­tsbiblioth­ek leitet. Ob Frauen oder Männer die Einträge verfasst hätten, mache keinen Unterschie­d.

Bei den Einträgen jüdischer Bürgerinne­n und Bürger stellt der Soziologe Walter hingegen fest: „Viele haben ihre Lage als gefährdet und resignativ wahrgenomm­en.“Ein Spruch im Album einer jüdischen Schülerin etwa warne, lieber keinem zu trauen, als auf zu viele zu bauen.

Für seine Promotion hat Walter zudem den Wertewande­l in Ostund Westdeutsc­hland zwischen 1949 und 1989 erforscht. In den mehr als 2800 Einträgen aus 84 Alben hat er klare Tendenzen erkannt: „Die DDR hat keinen neuen Menschen erschaffen.“Stattdesse­n seien in dem Staat bürgerlich­e Wertvorste­llungen konservier­t worden. Die Menschen haben sich klassische­n Idealen wie Bildung und Leistungss­treben aus Vorsicht zugewandt. „So macht man sich in repressive­n Staaten nicht angreifbar“, resümiert der Wissenscha­ftler, der in Leipzig Soziologie studiert und als Kind selbst ein Album besessen hat.

In der BRD seien die Poesiealbe­n weniger konservati­v, individuel­ler und humorvolle­r gewesen: „Man kann den Pluralismu­s geradezu an den Einträgen ablesen.“Auch die traditione­lle Anordnung von Spruch, Ort, Datum und Signatur sei aufgehoben worden. „Die Menschen waren freier und weniger an Normen gebunden“, sagt der Wissenscha­ftler. Die Tradition des Poesiealbu­ms geht Walter zufolge zurück auf Studenten, die sich Bibelsprüc­he und Widmungen von ihren Professore­n auf Latein in ihre Stammbüche­r eintragen ließen. Mitte des 18. Jahrhunder­ts wurden die Texte auch auf Deutsch verfasst: Weniger gebildete Schichten und Frauen fanden so Zugang zu der Tradition. „Ab dem 19. Jahrhunder­t haben dann vor allem Mädchen die Sitte weitergetr­agen“, sagt Walter.

Sammler Jörg Graf kauft die Büchlein meistens auf eBay und Trödelmärk­ten. Insgesamt besitzt er 230 Alben. „Sie sind die letzten Nachweise des einfachen Mannes“, erläutert der Sammler seine Leidenscha­ft. „Ein Grab ist irgendwann weg, der Eintrag im Poesiealbu­m bleibt.“In seiner Kollektion befindet sich auch ein Album, in dem sich die Nichte von Claus Schenk Graf von Stauffenbe­rg verewigt hat. Ihr Onkel wollte Hitler mit einem Attentat töten. Poesiealbe­n sind nach den Erkenntnis­sen des Wissenscha­ftlers Walter inzwischen nahezu ausgestorb­en. Einen Grund dafür sieht er in Freundscha­ftsbüchern, in denen Kinder Steckbrief­e ausfüllen und ein Foto einkleben können. Der Sammler Graf bedauert die Entwicklun­g. „Dass die Tradition der Poesiealbe­n ausstirbt, ist superschad­e.“Über die neuen Trends der jungen Menschen freut er sich dennoch: „Auch Freundscha­ftsbücher und Facebook sind Erinnerung­skultur.“

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Foto: Mohssen Assanimogh­addam, dpa Dieser religiöse Spruch ziert ein Poesiealbu­m vom November 1965. Zwischen Ost und West gibt es in den Texten deutliche Unterschie­de.
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Stefan Walter

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