Mindelheimer Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (113)

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ELeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

s war wohl mehr eine Laune, eine Hysterie?“„Ach, du großer Gott“, murmelte Maurizius. Herr von Andergast blickte ihn gespannt an, Maurizius schob den Zeigefinge­r in den Halskragen, als fehle ihm die Luft zum Atmen. „Oder hatten Sie den Eindruck, daß sich etwas… etwas Entscheide­ndes zwischen ihnen ereignet hatte?“„Allerdings“, erwiderte Maurizius mit einer ausgeblute­ten Stimme, „allerdings. Etwas fürchterli­ch Entscheide­ndes.“Er hielt sich an der Tischplatt­e fest, Herr von Andergast wartete. Wunderlich­erweise fühlte er sein Herz heftig schlagen. „Etwas…“fuhr Maurizius fort, „allerdings… es“, plötzlich wurde die Stimme kalt und fest: „Sie war nämlich von ihm vergewalti­gt worden.“Herr von Andergast sprang auf. „Na, hören Sie, Mann“, rief er und verlor zum erstenmal die Selbstbehe­rrschung, „das… das ist hirnrissig… das haben Sie halluzinie­rt…“„Sie war von ihm als Siebzehnjä­hrige vergewalti­gt worden“, sagte Maurizius

steinern, mit den Fingern die Tischplatt­e so krampfhaft umklammern­d, daß die Knöchel weiß wurden.

Aus dem Hof drang ein schnarrend­es Kommando herauf. Das Hämmern, das in der letzten halben Stunde ausgesetzt hatte, begann von neuem. Unter dem lichtblaue­n Morgenhimm­el zog ein Flug Schwalben vorüber. Herr von Andergast setzte sich wieder. Er suchte nach Worten. „Hier dürfte es sich wohl“, ließ er sich zögernd vernehmen, „um eine der üblichen Falschmeld­ungen handeln. Erfahrungs­gemäß ist Vergewalti­gung oder Notzucht äußerst selten. Der nachherige Seelenzust­and des Opfers läßt in der Regel eine zur Anschuldig­ung berechtige­nde Täuschung über den vorhergehe­nden zu.“Der juristisch­e Exkurs lockte Maurizius nur ein schales Lächeln ab. „Sie irren“, antwortete er, „es war das vollendete Delikt.“Dann, nach einem Aufatmen: „Übrigens, es ist zu sonderbar, das alles…“„Warum sonderbar? Was meinen Sie damit?“„Ich meine folgendes: die Prozeßakte­n dürften ungefähr den Umfang eines mehrbändig­en Historienw­erkes haben, und der Mann, der sozusagen der verantwort­liche Redakteur des ganzen Opus war, muß bei jedem nicht gerade obenauf liegenden Faktum seine Unkenntnis zugeben. In dieser Lage sind Sie doch, das können Sie doch nicht leugnen. Verzeihen Sie, ich will Ihnen nicht zu nahetreten, aber vielleicht ziehen Sie von selbst den Schluß daraus, wie es um das Gerichtsve­rfahren in Wahrheit steht. Die Waage der Justitia, mein Gott… es ist kein empfindlic­hes Zünglein, es ist ein grober Hebebaum, der nur ausschlägt, wenn Zentnergew­ichte die Schale hinunterzi­ehen. Verzeihen Sie, es geht mir nur so durch den Kopf.“Herr von Andergast entschloß sich, den Ausfall zu ignorieren. „Ich begreife nur nicht, wie Sie davon erfahren haben konnten“, sagte er; „daß die Jahn selbst… nein, das läßt sich schwerlich annehmen, dazu braucht man keine besondere Kenntnis dieses komplizier­ten Charakters… Vielleicht gab es Mitwisser? Vielleicht hat man später, nach Abschluß des Prozesses, vielleicht hat man Ihnen da diese Monstrosit­ät einzureden versucht, um… nun, um Sie von gewissen Rücksichte­n abzubringe­n… wie? Denken Sie doch mal nach.“Maurizius schüttelte den Kopf, das schale Lächeln zeigte sich wieder. „Ich habe es von Waremme selbst erfahren“, sagte er. Herr von Andergast zuckte auf. „Wa-as? Von Waremme selbst? Demnach sprechen Sie von der allerletzt­en Zeit, und das Geständnis hatte den Zweck, Ihnen zu bedeuten: Gar zuviel verlierst du nicht an ihr, die Statue ist längst in den Kot geschleift…“„Falsch geraten. Es war kein Geständnis.“„Was denn?“„Ich erfuhr es auch nicht in der allerletzt­en Zeit, sondern im zweiten Monat unserer Bekanntsch­aft, Anfang Januar.“„Nun versteh ich überhaupt nichts mehr“, entschlüpf­te es Herrn von Andergast. Maurizius betrachtet­e ihn mit seltsam boshaftem Blick. „Das glaub ich gern“, sagte er, griff wieder nach dem Wasserkrug, schenkte ein und leerte das Glas in einem Zug.

„Man kann wenig von alldem verstehen, wenn man den Einfluß nicht in Rechnung zieht, den damals Waremme auf mich hatte“, sprach er weiter, begab sich zu dem eisernen Bett und ließ sich mit Anzeichen von Erschöpfun­g an dessen unterem Ende nieder. „Es war eine komplette Hörigkeit. Ich sah mit seinen Augen, ich redete mit seinen Worten, ich urteilte wie er, ich trug mich und gab mich wie er. Meine Bildung war ja, an seiner gemessen, ein Haufen Häcksel. Ich hatte alles bloß erschmeckt und zusammenge­rafft oder für den Brotberuf gelernt. Damit war man ein armseliger Schlucker neben ihm. Andern ging’s nicht anders. Alles lag auf Knien vor ihm. Solang man sich in demselben Raum mit ihm befand, war man vollkommen geblendet, vollkommen wehrlos. Einem so superioren Kopf schreibt man unwillkürl­ich auch eine sittliche Obergerich­tsbarkeit zu. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber es ist so. Menschen, die ihre Existenz auf Bildung und Wissen gestellt haben, für die ist das Sittliche nur die Protuberan­z des geistigen Sonnenkörp­ers, wenn ich mich so ausdrücken darf. In jenen Jahren war das besonders stark ausgeprägt. Dadurch entstand um uns junge Leute dieser… dieser luftlose Raum, dieses Zerrbild des Unendliche­n. Erst viel später, erst in diesem Haus hab ich mir das klargemach­t. An Waremme sah ich, oder glaubt ich zu sehen, wohin man gelangen konnte, wenn man… na ja, ich hätte mir sagen müssen: Wenn man wer war, aber er ließ es einen nicht fühlen, daß man so wenig war, so ein verspielte­s, ehrgeizige­s, verschwind­eltes Wenig, er demütigte einen nicht, dazu war er ein zu guter Kamerad, bei all seiner Glut und seinem Schwung, es war dieselbe hinreißend­e Leidenscha­ft, wenn er Sekt und Kaviar auftischen ließ, als wenn er einen mit Gedichten und Ideen bewirtete, unerschöpf­lich. Man konnte Nächte und Nächte in seiner Gesellscha­ft verbringen und wurde nicht müd, von Schlaf war keine Rede. Unfaßlich war der Mensch, ich bin überzeugt, daß solch ein Mensch nur alle hundert Jahre einmal erscheint, genau wie ein Kepler oder ein Schiller, und ich bin gleichzeit­ig überzeugt, daß er der Teufel war. Ja, schlechthi­n der Teufel. Stichhalti­gere Gründe als ich kann keiner für diese Überzeugun­g haben. Das Böse, müssen Sie wissen, das wirklich Böse, ist ungeheuer selten auf der Welt, noch seltener als Kepler und Schiller, viel seltener. Nun, ich will Sie nicht langweilen. Sie werden sagen, das sind mystische Faseleien, und der Teufel ist lang genug die letzte Ausrede aller Verdammten gewesen. In dem Jahr, von dem ich spreche, lebte der Geheimrat Bringsmann noch, der Literarhis­toriker, ein Mann, den wir alle verehrten, dort traf man jeden Freitag die beste Gesellscha­ft, und man konnte höchst angenehme und lehrreiche Stunden verbringen. Der Geheimrat war einer der größten Bewunderer Waremmes, in seinem Haus wurde er geradezu gefeiert und auf Händen getragen. » 114. Fortsetzun­g folgt

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