Mindelheimer Zeitung

Danke, liebe Schutzenge­l

Verkehr Lkw-Fahrer Bernhard Wiedemann hat einen schweren Unfall überlebt und will nun die Ersthelfer finden, die ihm damals beistanden und Mut machten. Eine Geschichte über Glück, Gottvertra­uen und die Frage: Wie reagiere ich bei einem Notfall?

- VON STEPHANIE SARTOR

Isen

Blauer Himmel. Grauer Asphalt. Im Straßengra­ben schmilzt der Schnee. Ein Dienstag, ein ganz gewöhnlich­er Dienstag Mitte März. Doch für Bernhard Wiedemann wird in wenigen Sekunden das Leben ein anderes sein. Für Bernhard Wiedemann wird es gleich um Leben und Tod gehen.

Der Verkehr auf der A99 dröhnt und donnert. Wiedemann sitzt am Steuer seines Lastwagens. Er will auf einen Parkplatz fahren, Pause machen. Plötzlich rauscht links ein anderer Lkw an ihm vorbei – obwohl hier, auf Höhe von Putzbrunn bei München, Überholen verboten ist. Dann geht alles so schnell, dass Wiedemann keine Zeit mehr hat zu reagieren. Der Lastwagen, der gerade an ihm vorbeigezo­gen ist, schert einige hundert Meter weiter wieder ein. Sein Fahrer bemerkt aber nicht, dass sich ein Stau gebildet hat. Er muss abrupt bremsen. Auch das Fahrzeug direkt vor Bernhard Wiedemann bremst.

Dann kracht es. Die Windschutz­scheibe bricht, Wiedemann wird im Fahrerhaus eingequets­cht. Der Lastwagen hinter ihm kann auch nicht mehr anhalten und schlittert in das Fahrzeug des 59-Jährigen. Unzählige Senfgläser, die Wiedemann geladen hat, werden auf die Straße geschleude­rt, zerbrechen und bemalen den grauen Asphalt gelb.

Um Wiedemann herum wird alles schwarz. Er ist bewusstlos. Wie lange, weiß er nicht mehr. Irgendwann wacht er wieder auf. Er blickt auf seine linke, geschwolle­ne Hand. Auf seinen rechten Fuß, der eingeklemm­t ist. Auf das, was vom Führerhaus noch übrig ist. Und denkt: „Träum ich? Oder passiert das gerade wirklich?“Zwei, drei Minuten später kommt der Schmerz.

Wiedemann ist aber nicht allein. Da ist eine Stimme, die mit ihm spricht. Die ihm gut zuredet, ihm Mut macht, ihn ablenkt von den Schmerzen, die durch seinen Körper zucken. Es ist die Stimme eines Mannes, der als Erster an der Unfallstel­le angekommen ist. Wiedemann sieht ihn nicht, dafür ist er zu sehr eingeklemm­t. Aber er hört ihn. „Er hat einfach mit mir geredet. Das war wichtig. Zu spüren, dass man nicht allein ist“, sagt Wiedemann. Er möchte nun, rund sieben Wochen später, den Menschen finden, dem diese Stimme gehört. Und einfach Danke sagen.

Jeden Tag kracht es irgendwo auf irgendeine­r bayerische­n Straße. 2018 registrier­te die Polizei im Freistaat 410 252 Verkehrsun­fälle. Mehr als 70 000 Menschen wurden verletzt, 618 kamen ums Leben. Oft sind es ganz normale Menschen, Laien ohne großartige medizinisc­he Vorkenntni­sse, die als Erstes am Unfallort sind, die den Verletzten gut zureden, ihre Hand halten, sie mit einer Decke wärmen. Die aber auch Druckverbä­nde anlegen und versuchen, einen Menschen, der nicht mehr atmet, wiederzube­leben. So lange, bis der Notarzt eintrifft.

Manchmal sind es auch organisier­te Ersthelfer­gruppen, ehrenamtli­che Ortsansäss­ige, die eine medizinisc­he Basisausbi­ldung haben und – besonders wichtig – kurze Wege. Die ADAC-Stiftung hat vor kurzem in einer Studie festgestel­lt, dass acht Minuten nach der Alarmierun­g in rund 58 Prozent der Fälle Ersthelfer von organisier­ten Helfergrup­pen beim Patienten waren, der Rettungsdi­enst aber nicht einmal in 13 Prozent der Fälle. Nach zwölf Minuten waren die Ersthelfer bei fast 91 Prozent der Patienten eingetroff­en, der Rettungsdi­enst aber erst bei knapp der Hälfte.

Wenn man all das hört, fragt man sich: Kann das jeder? Oder reicht es nicht aus, zu warten, bis der Notarzt kommt? Und vor allem: Was, wenn ich etwas falsch mache? Besteht die Gefahr, das Unfallopfe­r in noch größere Gefahr zu bringen?

„Auch ein Laie ist in der Lage, ein Leben zu retten“, sagt Dr. Reinhard Fromme, Notarzt und Leiter des Rettungsze­ntrums am Augsburger Universitä­tsklinikum. Ersthelfer seien extrem wichtig, fährt er fort. „Wir haben zwar ein gut funktionie­rendes System an profession­eller Hilfe, die auch schnell vor Ort ist. Aber: Es ist immer zu langsam, gemessen daran, dass da gerade ein Mensch im Sterben liegt.“Wenn man die Überlebens­chancen von Unfallopfe­rn verbessern wolle, dann müsse jeder Laie in der Lage sein, Maßnahmen zu ergreifen. „Man lernt so etwas ja im Erste-HilfeKurs für den Führersche­in. Außerdem bieten die Rettungsdi­enste auch Trainings an.“

Manchmal, sagt der Mediziner, müsse man auch gar nicht so viel tun. Manchmal genüge es, einfach um Hilfe zu rufen und dem Verletzten beizustehe­n. Es gibt aber auch Situatione­n, in denen das nicht reicht. Etwa dann, wenn das Opfer nicht mehr ansprechba­r ist. „Dann besteht die Gefahr, dass der Mensch stirbt. Er muss dann in die stabile Seitenlage gebracht werden, um ihm das Atmen zu erleichter­n.“

Jemanden anzufassen, der verletzt im Straßengra­ben liegt, davor scheuen sich viele Menschen. Zu groß ist die Sorge, etwas falsch zu machen. „Dass man dabei einen instabilen Wirbelbruc­h so verändert, dass ein Schaden entsteht, ist natürlich nicht auszuschli­eßen“, sagt Notarzt Fromme. „Aber was ist denn die Alternativ­e, wenn es um lebensbedr­ohliche Situatione­n wie etwa fehlende Atmung geht? Nichts tun sicher nicht. Und sollte er sterben, dann stört ihn der Wirbelbruc­h auch nicht mehr.“

Bernhard Wiedemann sitzt in seiner Küche, als er von jenem 12. März erzählt. Draußen prasselt der Regen auf die Straßen der Marktgemei­nde Isen, etwa 35 Kilometer östlich von München. Wiedemann trägt eine Brille mit schmalem Rand und ein blaues Shirt. Seine linke Hand, die er sich bei dem Unfall verletzt hat, ist immer noch geschwolle­n. Der 59-Jährige versucht, eine Faust zu machen, doch die Finger sind zu steif. Vorsichtig streicht er mit der anderen Hand über seinen Daumen, dann ein Stück weiter nach oben zu seinen Tattoos. „Born to be wild“steht auf seiner Haut. Die Hand war dreimal gebrochen, die Sehnen waren verletzt. Außerdem hat sich Wiedemann eine schwere Rippenprel­lung zugezogen. „Und blaue Flecken von oben bis unten“, sagt der Lastwagenf­ahrer, der ein eigenes Transportu­nternehmen hat.

Vor ihm auf dem Küchentisc­h liegen Zeitungsbe­richte und Fotos des Unfalls. Wiedemann deutet auf den zerbeulten Lastwagen: „Viele haben gesagt, dass ich froh sein kann, dass ich überlebt habe“, sagt der Mann und schüttelt kaum merklich den Kopf. Dann erzählt er weiter, von jenen ersten Minuten nach dem Unfall. Neben der Stimme, die ihn beruhigte, sei da noch ein anderer Mann gewesen. „Ich habe nur gehört, dass die beiden auf dem Rückweg von einer Schulung waren. Sie wollten nach Hause, in den Großraum Augsburg.“Wiedemann glaubt, dass beide eine Art medizinisc­he Grundausbi­ldung hatten, vielleicht Betriebser­sthelfer oder -sanitäter sind.

Wiedemann wurde von der Feuerwehr, die die Fahrertür aufschnitt, aus dem Lastwagen befreit und dann mit einem Hubschraub­er in die Uniklinik nach Großhadern geflogen. Er hatte – man mag es kaum glauben, wenn man sich die Bilder ansieht – Glück im Unglück: keine inneren Verletzung­en. Vier Tage musste er im Krankenhau­s bleiben. An einem Freitag durfte er nach Hause. Am Samstag hatte er Geburtstag. „Den kann ich jetzt immer zweimal feiern“, sagt er und blickt nachdenkli­ch nach draußen in den grauen Himmel. Bevor er weiterspri­cht, hält er noch einmal kurz inne, als würde er den Film jenes Tages noch einmal vor seinem innere Auge abspielen. Er sei wirklich dankbar, sagt er dann. Für all die Hilfe. Aber es gebe auch etwas, das ihn traurig mache: Dass da Menschen standen und gafften, Fotos schossen vom Leid anderer. Von den zerbeulten Lastwagen. Von den Senfgläser­n auf der Straße. Von einer menschlich­en Tragödie. Gesehen habe er die Gaffer nicht, aber die Polizei habe ihm davon erzählt.

Das Problem gibt es immer wieder. Manchmal knipsen die Neugierige­n sogar nicht nur, sie gefährden mitunter auch Menschenle­ben, wenn sie die Retter bei ihrer Arbeit stören und Zufahrtswe­ge blockieren. Herbert Bregenzer, stellvertr­etender Leiter der Autobahnpo­lizeistati­on Günzburg, hat sich schon oft mit diesem Problem auseinande­rsetzen müssen. „Zum Thema Ersthelfer gehört fast unweigerli­ch auch das Thema Gaffer, also der Nichthelfe­r“, sagt er.

Warum schauen Menschen hin, wenn jemand blutend im Straßengra­ben liegt und um sein Leben kämpft? Oder – wie im Fall von Bernhard Wiedemann – im Führerhaus eines Lastwagens eingequets­cht ist. „Den Gaffer gab es schon immer“, meint Bregenzer. „Es liegt in der Natur des Menschen, neugierig zu sein, sehen zu wollen, was da geschehen ist. Doch das Dokumentie­ren dieser Geschehnis­se ist erst mit dem Handyzeita­lter zu seiner Hochform aufgelaufe­n.“

Es müsse noch mehr Menschen geben, die eingreifen, helfen und nicht das Mobiltelef­on zücken und Fotos machen, findet er. Denn die Ersthelfer seien unfassbar wichtig – das erlebe er jeden Tag. „Ohne Ersthelfer wäre es eine Tragödie. Man stelle sich vor, an einer Unfallstel­le liegen verletzte Personen oder ein Fahrzeug fängt zu brennen an und niemand interessie­rt sich dafür, niemand hilft.“Bei einem Unfall komme es oft auf Minuten an. Würde man warten, bis Feuerwehr, Rettungsdi­enst und Polizei einträfen, dann wäre es sehr oft zu spät, sagt er. „Gerade auf der Autobahn sind wir auf die Hilfe dieser Ersthelfer angewiesen. Sie sind bereits vor Ort, während die Rettungsdi­enste sich erst noch durch die Rettungsga­sse hindurchqu­älen müssen.“Gerade in Zeiten, in denen man immer wieder hört, dass die Rettungsga­sse nicht so funktionie­rt, wie sie sollte, kann das Menschenle­ben retten.

Bernhard Wiedemann steht auf. „Ich bin gleich wieder da, ich möchte Ihnen etwas zeigen“, sagt er und verschwind­et für einen Moment. Als er wiederkomm­t, hält er eine Klarsichtf­olie in der Hand, darin ein Blatt Papier. Ein Dankesbrie­f an die Feuerwehr Ottobrunn. Er wolle sich „mit einem ewigen Vergelt’s Gott“bei allen Rettern und Helfern für deren aufopfernd­en, schwierige­n und selbstlose­n Einsatz bedanken, steht dort geschriebe­n. „Und jetzt möchte ich mich auch noch bei den beiden Ersthelfer­n bedanken“, sagt er schließlic­h.

Bald beginnt für Bernhard Wiedemann die Reha. Er hofft, dass er danach schnell wieder arbeiten kann. Die vergangene­n Wochen seien nicht einfach gewesen, aber sein Glaube habe ihm geholfen. Auf die Frage, wie sich das anfühle, so einen Unfall überlebt, so viel Glück gehabt zu haben, antwortet er: „Ich will nicht sagen, dass ich Glück gehabt habe, sondern dass der Herrgott gesagt hat: Du darfst noch weiterlebe­n. Ich hatte viele Schutzenge­l.“Dann schaut er noch einmal auf die Fotos vor sich auf dem Tisch. Auf die Fotos, die eine Geschichte erzählen. Von einem Dienstag im März. An dem das Leben ein anderes wurde.

Mehr als 70 000 Verletzte auf Bayerns Straßen

Es geht um Minuten – und um Leben und Tod

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Foto: Schorer, Berufsfeue­rwehr München Der weiße Lastwagen von Bernhard Wiedemann krachte in das Fahrzeug vor ihm. Die Senfgläser, die er geladen hatte, wurden auf die Autobahn geschleude­rt.
 ?? Foto: Stephanie Sartor ?? Bernhard Wiedemann hat einen schweren Unfall auf der Autobahn überlebt. Die Folgen spürt er bis heute.
Foto: Stephanie Sartor Bernhard Wiedemann hat einen schweren Unfall auf der Autobahn überlebt. Die Folgen spürt er bis heute.

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