Danke, liebe Schutzengel
Verkehr Lkw-Fahrer Bernhard Wiedemann hat einen schweren Unfall überlebt und will nun die Ersthelfer finden, die ihm damals beistanden und Mut machten. Eine Geschichte über Glück, Gottvertrauen und die Frage: Wie reagiere ich bei einem Notfall?
Isen
Blauer Himmel. Grauer Asphalt. Im Straßengraben schmilzt der Schnee. Ein Dienstag, ein ganz gewöhnlicher Dienstag Mitte März. Doch für Bernhard Wiedemann wird in wenigen Sekunden das Leben ein anderes sein. Für Bernhard Wiedemann wird es gleich um Leben und Tod gehen.
Der Verkehr auf der A99 dröhnt und donnert. Wiedemann sitzt am Steuer seines Lastwagens. Er will auf einen Parkplatz fahren, Pause machen. Plötzlich rauscht links ein anderer Lkw an ihm vorbei – obwohl hier, auf Höhe von Putzbrunn bei München, Überholen verboten ist. Dann geht alles so schnell, dass Wiedemann keine Zeit mehr hat zu reagieren. Der Lastwagen, der gerade an ihm vorbeigezogen ist, schert einige hundert Meter weiter wieder ein. Sein Fahrer bemerkt aber nicht, dass sich ein Stau gebildet hat. Er muss abrupt bremsen. Auch das Fahrzeug direkt vor Bernhard Wiedemann bremst.
Dann kracht es. Die Windschutzscheibe bricht, Wiedemann wird im Fahrerhaus eingequetscht. Der Lastwagen hinter ihm kann auch nicht mehr anhalten und schlittert in das Fahrzeug des 59-Jährigen. Unzählige Senfgläser, die Wiedemann geladen hat, werden auf die Straße geschleudert, zerbrechen und bemalen den grauen Asphalt gelb.
Um Wiedemann herum wird alles schwarz. Er ist bewusstlos. Wie lange, weiß er nicht mehr. Irgendwann wacht er wieder auf. Er blickt auf seine linke, geschwollene Hand. Auf seinen rechten Fuß, der eingeklemmt ist. Auf das, was vom Führerhaus noch übrig ist. Und denkt: „Träum ich? Oder passiert das gerade wirklich?“Zwei, drei Minuten später kommt der Schmerz.
Wiedemann ist aber nicht allein. Da ist eine Stimme, die mit ihm spricht. Die ihm gut zuredet, ihm Mut macht, ihn ablenkt von den Schmerzen, die durch seinen Körper zucken. Es ist die Stimme eines Mannes, der als Erster an der Unfallstelle angekommen ist. Wiedemann sieht ihn nicht, dafür ist er zu sehr eingeklemmt. Aber er hört ihn. „Er hat einfach mit mir geredet. Das war wichtig. Zu spüren, dass man nicht allein ist“, sagt Wiedemann. Er möchte nun, rund sieben Wochen später, den Menschen finden, dem diese Stimme gehört. Und einfach Danke sagen.
Jeden Tag kracht es irgendwo auf irgendeiner bayerischen Straße. 2018 registrierte die Polizei im Freistaat 410 252 Verkehrsunfälle. Mehr als 70 000 Menschen wurden verletzt, 618 kamen ums Leben. Oft sind es ganz normale Menschen, Laien ohne großartige medizinische Vorkenntnisse, die als Erstes am Unfallort sind, die den Verletzten gut zureden, ihre Hand halten, sie mit einer Decke wärmen. Die aber auch Druckverbände anlegen und versuchen, einen Menschen, der nicht mehr atmet, wiederzubeleben. So lange, bis der Notarzt eintrifft.
Manchmal sind es auch organisierte Ersthelfergruppen, ehrenamtliche Ortsansässige, die eine medizinische Basisausbildung haben und – besonders wichtig – kurze Wege. Die ADAC-Stiftung hat vor kurzem in einer Studie festgestellt, dass acht Minuten nach der Alarmierung in rund 58 Prozent der Fälle Ersthelfer von organisierten Helfergruppen beim Patienten waren, der Rettungsdienst aber nicht einmal in 13 Prozent der Fälle. Nach zwölf Minuten waren die Ersthelfer bei fast 91 Prozent der Patienten eingetroffen, der Rettungsdienst aber erst bei knapp der Hälfte.
Wenn man all das hört, fragt man sich: Kann das jeder? Oder reicht es nicht aus, zu warten, bis der Notarzt kommt? Und vor allem: Was, wenn ich etwas falsch mache? Besteht die Gefahr, das Unfallopfer in noch größere Gefahr zu bringen?
„Auch ein Laie ist in der Lage, ein Leben zu retten“, sagt Dr. Reinhard Fromme, Notarzt und Leiter des Rettungszentrums am Augsburger Universitätsklinikum. Ersthelfer seien extrem wichtig, fährt er fort. „Wir haben zwar ein gut funktionierendes System an professioneller Hilfe, die auch schnell vor Ort ist. Aber: Es ist immer zu langsam, gemessen daran, dass da gerade ein Mensch im Sterben liegt.“Wenn man die Überlebenschancen von Unfallopfern verbessern wolle, dann müsse jeder Laie in der Lage sein, Maßnahmen zu ergreifen. „Man lernt so etwas ja im Erste-HilfeKurs für den Führerschein. Außerdem bieten die Rettungsdienste auch Trainings an.“
Manchmal, sagt der Mediziner, müsse man auch gar nicht so viel tun. Manchmal genüge es, einfach um Hilfe zu rufen und dem Verletzten beizustehen. Es gibt aber auch Situationen, in denen das nicht reicht. Etwa dann, wenn das Opfer nicht mehr ansprechbar ist. „Dann besteht die Gefahr, dass der Mensch stirbt. Er muss dann in die stabile Seitenlage gebracht werden, um ihm das Atmen zu erleichtern.“
Jemanden anzufassen, der verletzt im Straßengraben liegt, davor scheuen sich viele Menschen. Zu groß ist die Sorge, etwas falsch zu machen. „Dass man dabei einen instabilen Wirbelbruch so verändert, dass ein Schaden entsteht, ist natürlich nicht auszuschließen“, sagt Notarzt Fromme. „Aber was ist denn die Alternative, wenn es um lebensbedrohliche Situationen wie etwa fehlende Atmung geht? Nichts tun sicher nicht. Und sollte er sterben, dann stört ihn der Wirbelbruch auch nicht mehr.“
Bernhard Wiedemann sitzt in seiner Küche, als er von jenem 12. März erzählt. Draußen prasselt der Regen auf die Straßen der Marktgemeinde Isen, etwa 35 Kilometer östlich von München. Wiedemann trägt eine Brille mit schmalem Rand und ein blaues Shirt. Seine linke Hand, die er sich bei dem Unfall verletzt hat, ist immer noch geschwollen. Der 59-Jährige versucht, eine Faust zu machen, doch die Finger sind zu steif. Vorsichtig streicht er mit der anderen Hand über seinen Daumen, dann ein Stück weiter nach oben zu seinen Tattoos. „Born to be wild“steht auf seiner Haut. Die Hand war dreimal gebrochen, die Sehnen waren verletzt. Außerdem hat sich Wiedemann eine schwere Rippenprellung zugezogen. „Und blaue Flecken von oben bis unten“, sagt der Lastwagenfahrer, der ein eigenes Transportunternehmen hat.
Vor ihm auf dem Küchentisch liegen Zeitungsberichte und Fotos des Unfalls. Wiedemann deutet auf den zerbeulten Lastwagen: „Viele haben gesagt, dass ich froh sein kann, dass ich überlebt habe“, sagt der Mann und schüttelt kaum merklich den Kopf. Dann erzählt er weiter, von jenen ersten Minuten nach dem Unfall. Neben der Stimme, die ihn beruhigte, sei da noch ein anderer Mann gewesen. „Ich habe nur gehört, dass die beiden auf dem Rückweg von einer Schulung waren. Sie wollten nach Hause, in den Großraum Augsburg.“Wiedemann glaubt, dass beide eine Art medizinische Grundausbildung hatten, vielleicht Betriebsersthelfer oder -sanitäter sind.
Wiedemann wurde von der Feuerwehr, die die Fahrertür aufschnitt, aus dem Lastwagen befreit und dann mit einem Hubschrauber in die Uniklinik nach Großhadern geflogen. Er hatte – man mag es kaum glauben, wenn man sich die Bilder ansieht – Glück im Unglück: keine inneren Verletzungen. Vier Tage musste er im Krankenhaus bleiben. An einem Freitag durfte er nach Hause. Am Samstag hatte er Geburtstag. „Den kann ich jetzt immer zweimal feiern“, sagt er und blickt nachdenklich nach draußen in den grauen Himmel. Bevor er weiterspricht, hält er noch einmal kurz inne, als würde er den Film jenes Tages noch einmal vor seinem innere Auge abspielen. Er sei wirklich dankbar, sagt er dann. Für all die Hilfe. Aber es gebe auch etwas, das ihn traurig mache: Dass da Menschen standen und gafften, Fotos schossen vom Leid anderer. Von den zerbeulten Lastwagen. Von den Senfgläsern auf der Straße. Von einer menschlichen Tragödie. Gesehen habe er die Gaffer nicht, aber die Polizei habe ihm davon erzählt.
Das Problem gibt es immer wieder. Manchmal knipsen die Neugierigen sogar nicht nur, sie gefährden mitunter auch Menschenleben, wenn sie die Retter bei ihrer Arbeit stören und Zufahrtswege blockieren. Herbert Bregenzer, stellvertretender Leiter der Autobahnpolizeistation Günzburg, hat sich schon oft mit diesem Problem auseinandersetzen müssen. „Zum Thema Ersthelfer gehört fast unweigerlich auch das Thema Gaffer, also der Nichthelfer“, sagt er.
Warum schauen Menschen hin, wenn jemand blutend im Straßengraben liegt und um sein Leben kämpft? Oder – wie im Fall von Bernhard Wiedemann – im Führerhaus eines Lastwagens eingequetscht ist. „Den Gaffer gab es schon immer“, meint Bregenzer. „Es liegt in der Natur des Menschen, neugierig zu sein, sehen zu wollen, was da geschehen ist. Doch das Dokumentieren dieser Geschehnisse ist erst mit dem Handyzeitalter zu seiner Hochform aufgelaufen.“
Es müsse noch mehr Menschen geben, die eingreifen, helfen und nicht das Mobiltelefon zücken und Fotos machen, findet er. Denn die Ersthelfer seien unfassbar wichtig – das erlebe er jeden Tag. „Ohne Ersthelfer wäre es eine Tragödie. Man stelle sich vor, an einer Unfallstelle liegen verletzte Personen oder ein Fahrzeug fängt zu brennen an und niemand interessiert sich dafür, niemand hilft.“Bei einem Unfall komme es oft auf Minuten an. Würde man warten, bis Feuerwehr, Rettungsdienst und Polizei einträfen, dann wäre es sehr oft zu spät, sagt er. „Gerade auf der Autobahn sind wir auf die Hilfe dieser Ersthelfer angewiesen. Sie sind bereits vor Ort, während die Rettungsdienste sich erst noch durch die Rettungsgasse hindurchquälen müssen.“Gerade in Zeiten, in denen man immer wieder hört, dass die Rettungsgasse nicht so funktioniert, wie sie sollte, kann das Menschenleben retten.
Bernhard Wiedemann steht auf. „Ich bin gleich wieder da, ich möchte Ihnen etwas zeigen“, sagt er und verschwindet für einen Moment. Als er wiederkommt, hält er eine Klarsichtfolie in der Hand, darin ein Blatt Papier. Ein Dankesbrief an die Feuerwehr Ottobrunn. Er wolle sich „mit einem ewigen Vergelt’s Gott“bei allen Rettern und Helfern für deren aufopfernden, schwierigen und selbstlosen Einsatz bedanken, steht dort geschrieben. „Und jetzt möchte ich mich auch noch bei den beiden Ersthelfern bedanken“, sagt er schließlich.
Bald beginnt für Bernhard Wiedemann die Reha. Er hofft, dass er danach schnell wieder arbeiten kann. Die vergangenen Wochen seien nicht einfach gewesen, aber sein Glaube habe ihm geholfen. Auf die Frage, wie sich das anfühle, so einen Unfall überlebt, so viel Glück gehabt zu haben, antwortet er: „Ich will nicht sagen, dass ich Glück gehabt habe, sondern dass der Herrgott gesagt hat: Du darfst noch weiterleben. Ich hatte viele Schutzengel.“Dann schaut er noch einmal auf die Fotos vor sich auf dem Tisch. Auf die Fotos, die eine Geschichte erzählen. Von einem Dienstag im März. An dem das Leben ein anderes wurde.
Mehr als 70 000 Verletzte auf Bayerns Straßen
Es geht um Minuten – und um Leben und Tod