Mindelheimer Zeitung

Warum wir Querköpfe wie Kühnert und Palmer brauchen

Parteiauss­chluss für Provokateu­re? Bitte nicht! Unbequeme Politiker haben eine wichtige Funktion in unserer Demokratie

- VON MARGIT HUFNAGEL huf@augsburger-allgemeine.de

Wer den grünen Ministerpr­äsidenten von BadenWürtt­emberg, Winfried Kretschman­n, nach seinem Tübinger Parteifreu­nd Boris Palmer fragt, blickt erst einmal auf eine Stirn voller Furchen. Minutenlan­ges Schweigen. Dann sagt er einen Satz, der ohne Übertreibu­ng als philosophi­sches Manifest bezeichnet werden kann: „Palmer ist halt der Palmer und macht halt so Sachen.“Palmer sucht die Provokatio­n und findet sie an jeder Straßeneck­e. Mal ist es die Bahn-Werbung, mal der Erziehungs­stil einer Migrantenf­amilie, mal ein aufmüpfige­r Student. Der Grüne treibt mit seinen öffentlich­en Tadeln nicht nur den Seinen regelmäßig die Zornesröte ins Gesicht. Die Republik schäumt. Sie könnte es auch lassen. Denn: Der Palmer macht halt so Sachen. Und das ist auch gut so.

Boris Palmer, Kevin Kühnert, vielleicht noch Wolfgang Kubicki. Der eine ist zu populistis­ch, der andere zu sozialisti­sch, der andere ein ewiger Macho. Die politische­n Querköpfe, die nicht ins aktuelle Korsett der breiten Masse passen, lassen sich inzwischen an einer Hand abzählen. Dabei kann Deutschlan­d froh sein, dass es sie hat. Es mag eine schlechte Idee sein, sie in höchste Staatsämte­r zu wählen, doch in ihrer Rolle als manchmal auch schrille Störenfrie­de haben sie eine reinigende Funktion. Parteien müssen ihre eigene Politik immer wieder infrage stellen, Gesellscha­ften ihren Konsens überprüfen. Und dazu braucht es Menschen, die uns dazu zwingen, unsere Haltung zu rechtferti­gen und zu erklären. Erst wenn es Menschen gibt, die quer zur gängigen Meinung stehen, werden wir zu diesem mühevollen Handeln gezwungen. Stromlinie­nförmige Politik mag bequem sein, gut ist sie deshalb noch lange nicht. Und so lange die Wortmeldun­gen der Krawallnud­eln nicht in dumpfe Parolen ausarten oder bewusst verletzen, müssen wir die Querschüss­e aushalten. Wer hat denn behauptet, dass Demokratie nicht auch mal nervt? Ganz ehrlich: das ständige Sich-gegenseiti­g-auf-die-Schulter-Klopfen führt doch am Ende auch nur zu Verspannun­gen. Und da kann so eine Gefühlswal­lung, wie sie Palmer oder Kühnert auslösen, durchaus befreiend wirken. Politische Willensbil­dung erfolgt durch Diskussion­en

Die Willensbil­dung erfolgt durch Debatten

– und die lösen ein Boris Palmer und ein Kevin Kühnert (so unterschie­dlich sie auch sind) durchaus aus. Wer, wenn nicht ein Juso-Chef, soll von einem System jenseits des Kapitalism­us träumen dürfen? Hat nicht auch die Soziale Marktwirts­chaft dem eigenen Missbrauch immer wieder zugeschaut? Wer, wenn nicht ein Oberbürger­meister, soll sich zum letzten Sheriff stilisiere­n dürfen? Hat nicht er durch den engen Kontakt zu Menschen und ihren Problemen den besten Blick auf unsere Gesellscha­ft? Selbst wenn es bisweilen grober Unfug ist, den diese „bad boys“da verzapfen – und das ist es immer wieder –, eine Demokratie, die Störenfrie­de nicht aushält, ist keine. Und doch gibt es Grenzen. Gefährlich wird es dann, wenn der Querkopf sich für den einzig wahren Propheten der „mutigen Wahrheit“ sieht. Wenn der Widerspruc­h nur noch aus egozentris­chen Kränkungen und radikalen Einwürfen besteht. Männer wie Palmer, Kühnert und Kubicki müssen der bisweilen arg selbstverl­iebt wirkenden Neigung widerstehe­n, zu stören um des Störens willen. Sie dürfen ihre Botschafte­n nicht wie Giftpfeile in die Menge schießen, das wäre gefährlich­er Populismus. Dann unterschei­den sie sich irgendwann nicht mehr von Parteien wie der AfD und bereiten Politikert­ypen wie Donald Trump den Boden. Politik darf unbequem sein, doch zuallerers­t muss sie nach Lösungen suchen und nicht nur gehässig auf Probleme deuten.

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