Mindelheimer Zeitung

Porträt Der unvollende­te Machtmensc­h

Sigmar Gabriel mischt sich jetzt aus dem Hintergrun­d in die aktuelle Politik ein. Als langjährig­er SPD-Chef scheute er zweimal vor der Kanzlerkan­didatur zurück

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Dieser Mann ist schwer zu fassen. Weder von seinen Genossen noch von der medialen Öffentlich­keit. Sigmar Gabriel ist immer seinen eigenen Weg gegangen und tut es auch heute noch. Es fällt ihm wieder leichter, seitdem er in die Gilde der „Elder Statesmen“gewechselt und die Verantwort­ung in der Tagespolit­ik an andere abgetreten hat. Er kann sich zu allem und allen äußern, kann einen aufmüpfige­n Juso-Vorsitzend­en wie Kevin Kühnert ungestraft maßregeln und dessen Vorgehen mit den Methoden Donald Trumps vergleiche­n. Wer kann das schon?

Ein ehemaliger SPD-Chef, der es seit der Ära Willy Brandt am längsten auf dem Stuhl ausgehalte­n hat, bestimmt. Im November 2009 wurde Sigmar Gabriel an die Spitze der Partei gewählt. In Erinnerung blieb sein Satz, mit dem er die Delegierte­n

kurz nach der verlorenen Bundestags­wahl begeistert­e: „Wir müssen raus ins Leben; da, wo es laut ist; da, wo es brodelt; da, wo es manchmal riecht, gelegentli­ch auch stinkt.“

Das war ein hoher sozialdemo­kratischer Anspruch, dem seine Genossen dennoch nur zögerlich bis gar nicht folgten. Gabriel stabilisie­rte die SPD auf niedrigem Niveau, führte sie nach vier Jahren auch wieder in eine Koalition mit der CDU/CSU unter Angela Merkel. Aber seine persönlich­en Ambitionen schienen immer gebremst, blieben unvollende­t. Als SPDChef hätte er nach der Kanzlerkan­didatur greifen können – sogar müssen. Aber dem Machtmensc­hen Gabriel drohten krachende Niederlage­n. Er wusste um sein schwächeln­des Ansehen beim Wähler. So ließ er 2013 Ex-Finanzmini­ster Peer Steinbrück den Vortritt. Als es 2017 wieder so weit gewesen wäre und er nur hätte „Ja“sagen müssen, tat er genau das Gegenteil: Rücktritt vom SPD-Vorsitz und Präsentati­on von Martin Schulz als Nachfolger, inklusive Kanzlerkan­didatur. In den Wochen zuvor schien es noch so, als bereite sich der damalige Wirtschaft­sminister schon akribisch auf die Herausford­erung von Kanzlerin Angela Merkel vor. Vielleicht wurde darin auch die innere Zerrissenh­eit des heute 59-jährigen Niedersach­sen aus Goslar im Harz deutlich. Mal linker Sozialdemo­krat, mal rechter. Mal der Attackiere­nde, mal der Versöhnend­e. Mal der Vollzeitpo­litiker, dann aber auch wieder der Familienme­nsch, der sich wie selbstvers­tändlich Auszeiten für sein spätes zweites Glück mit einer 17 Jahre jüngeren Zahnärztin und inzwischen zwei kleinen Töchtern (zwei und sieben Jahre alt) gönnt.

Bald nach seinem Rückzug von der Parteispit­ze erlebten die Deutschen einen gewandelte­n, sichtbar (auch rein körperlich) erleichter­ten Sigmar Gabriel. Der ehemalige niedersäch­sische Ministerpr­äsident beerbte Außenminis­ter und Vizekanzle­r Frank Walter Steinmeier, der zum Bundespräs­identen gewählt worden war. Seine Beliebthei­tswerte stiegen endlich. Es müssen für ihn unfassbar schöne Monate gewesen sein. Demnächst kann er sich vielleicht als neuer Vorsitzend­er der Atlantikbr­ücke von außen in die Politik einmischen.

Joachim Bomhard

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