Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (116) E
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat. © Projekt Gutenberg
r hatte längst bemerkt, daß mein Verhältnis zu Anna immer herzlicher und vertraulicher wurde, da wollte er einen Riegel vorschieben und mir zu verstehen geben: an die rühr nicht hin, die kannst du nicht erbeuten, da sind Hindernisse, deren nicht einmal ich Herr werde, um wieviel weniger du, und du siehst selbst, daß ich mich auf hilfreiche Freundschaft beschränke, für anderes ist da kein Raum, anderes zu hoffen verbietet sich für jeden, der nicht ein gewissenloser Schuft ist. Es hätte zu seinem Charakter gestimmt, in einem Nebenbuhler, den er im Grund nicht einmal ernst nahm, auf Umwegen den Elan zu brechen. Ich sage das aus meiner nachherigen Erkenntnis, damals war ich ja verblendet, obwohl mir Argwohn über Argwohn aufstieg. Ich mußte beständig an seine unheimliche Suada denken, mir war, als habe er sich mir nur in einer großartigen Pose zeigen wollen, und sooft ich mir seine Erschütterung, seinen Schmerzensausbruch ins Gedächtnis
rief, spürte ich darin dieselbe Meisterschaft wie beim Vortrag der Shakespeare-Szene. Beides stammte wohl aus der gleichen Quelle, es war müßig, eine Absicht, einen Plan, einen Zweck dahinter zu suchen. Es war vielleicht der unbändige Trieb nach Selbststeigerung und Selbstgenuß, ein gewisses Lebenspathos war ihm zweite Natur, unter Umständen stürzte er sich auch in Gefahr dafür. Vielleicht war sogar das Ganze ein Phantasieerzeugnis, eine Mystifikation, eine Waremmesche Dichtung, auch das war möglich. Mit dieser Vermutung hatte ich freilich unrecht. Bis dahin hatte ich geglaubt, daß er mich liebte, jedenfalls mich vielen andern vorzog, ich hatte genügend Ursache, es zu glauben, jetzt auf einmal schien es mir, daß er mich haßte, und zwar mit einem unergründlichen, heimlichen Haß, der ihn zu allem fähig machte, weil er zu allem fähig war, im Bösen wie im Guten, die Gerechtigkeit muß ich ihm widerfahren lassen: auch im Guten, ja, auch im Guten, aber warum, der Haß? warum? Ich weiß es bis heute nicht, denn aus der Eifersucht allein kann ich ihn mir nicht erklären, dazu war er ein zu despotischer Mensch, viel zu sehr von seiner Größe und Überlegenheit durchdrungen. Ich fand also nirgends Anhalt, nirgends Boden, ich trieb mich tagelang sinnlos herum, am liebsten hätte ich mich versteckt, ich hatte Angst vor dem Wiedersehen mit Anna, als müßt ich verhindern, daß sie ein gewisses Bild in meinen Augen erblickte, das mich verrückt machte. Ich benahm mich wie einer, dem ein Lionardo oder ein Rubens, das Kostbarste, was er besitzt, von Bubenhänden besudelt worden ist, als wär ich Eigentümer von ihr gewesen, als hätt ich das verbriefte Recht auf ihre Unberührtheit gehabt, als hätt ihr das nicht zustoßen dürfen, weil ich auf der Welt war. Ich war zerrissen, einfach entzweigerissen; vor der Arbeit graute mir, ich fand an keinem Ort Ruhe, ich konnte mit keinem Menschen fünf zusammenhängende Sätze reden, und das Leben an Ellis Seite wurde zur Qual, so verständig und gütig sie sich auch anfangs benahm. Ein paar Wochen später wurde das anders. Nun, so konnt es mit mir nicht weitergehn, ich mußte mir Luft verschaffen, ich mußte mit Anna sprechen und wenn das größte Unheil daraus entsprang. Ich war nie imstande gewesen, etwas zu verbergen. Jeder konnte von meinem Gesicht ablesen, was in mir vorging. Es fiel mir schwer, ein Geheimnis bei mir zu behalten, oft setzte ich mich dadurch ernsten Verlegenheiten aus, es war mir aber nicht bequem, es störte und bedrückte mich, aus purem Egoismus wurde ich indiskret und täuschte ein Vertrauen, das man mir geschenkt hatte, deswegen galt ich auch für unzuverlässig, und mit Grund. Hier hatte ich schon über meine Kraft geschwiegen, ich sagte mir: Es ist Blendwerk, das dich zum Schweigen verhält, die lähmende Fessel abzustreifen ist Pflicht gegen Anna wie gegen dich selbst. So bat ich sie eines Tages um eine Unterredung, und sie ließ mich zu sich kommen. Sie ahnte schon lang, was mit mir los war. Ich hatte oft zu spüren gemeint, daß es in ihr kämpfte und gärte, als wolle sie was bekennen. Doch Menschen von ihrer Art bekennen nicht, schon gar nicht aus freien Stücken, eher lassen sie sich foltern. Wenn mir ihre Gestalt und ihr Wesen so recht inbrünstig zur Vision wurde, zweifelte ich nie daran, daß etwas Schauriges ihren Weg gekreuzt und sie für immer gezeichnet hatte. Und wenn ich so nah war, daß ich dachte, ich müsse bloß hingreifen, um sie zu nehmen und aufzuschließen, verlosch sie wie ein Licht und wurde ganz kalt, ganz konventionell. Viele Wochen später gestand sie mir, daß sie das Verbrechen, das an ihr verübt worden, ich nenne es Verbrechen, sie umschrieb es scheu oder benannte es überhaupt nicht, daß sie es nicht einmal in der Beichte bekannt habe. An dem Tag nun, als wir allein in ihrem Zimmer waren und ich mich versichert hatte, daß wir nicht gestört und belauscht werden konnten, nahm ich allen Mut zusammen und begann ohne Umschweife, Feiglinge gehen immer direkt aufs Ziel los, begann direkt zu fragen, ob das und das wirklich passiert sei. Ich bediente mich natürlich auch des unbestimmten Hinweises, dem es ja an der nötigen Bestimmtheit nicht fehlte. Sie zuckte ein wenig zusammen und schaute ins Leere. Das Gesicht bekam einen Ausdruck finsterer Verstocktkeit. Einmal sah sie nach der Tür, als erwäge sie, ob es nicht vorzuziehen sei, das Zimmer zu verlassen. Ich haschte nach ihrer Hand, sie verschränkte die Arme über der Brust und preßte die Lippen aufeinander. Ich sagte: Hör mich an, zwischen uns, Anna, kann das nichts ändern. Sie schwieg. Ich sagte: Du mußt verstehen, daß ich nichts dazu getan habe, es zu erfahren, aber da ich’s nun einmal weiß, kann ich dir vielleicht helfen, es zu verwinden. Sie schwieg. Ich erinnere mich nicht mehr, was ich alles noch vorbrachte, ich glaube, ich sprach sogar davon, den Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Sie schwieg und schwieg. Ich hatte das Gefühl, einer Tauben gegenüber zu sitzen. Ich sagte: Anna, wenn dir so viel an mir liegt wie an dem Nadelkissen da auf dem Tisch, so sag mir, was ich für dich tun soll, oder wenigstens, wie ich mich dazu stellen soll, oder ob du mir erlaubst, mit dir davon zu reden, irgend etwas, irgend etwas, nur sitz nicht da wie der Sphinx und laß mich Ödipus spielen. Sie schwieg. Da griff ich nach meinem Hut und wollte fortstürzen. Da machte sie eine kleine Bewegung mit dem Arm, aber so unscheinbar sie war, so viel Bitte und Beschwörung war darin enthalten. Da sagt ich mit gefalteten Händen: Anna, ist es wahr, sag nichts als ja oder nein. Da sagte sie tonlos: Ja. Da sagt ich: Gut, nun ist alles gut, nun hast du mir doch gezeigt, daß ich dir einer Antwort wert bin, jetzt sag nur noch: Ist es dir eine Last, eine Kränkung, meine ich, eine Lebensverdunkelung? Sie nickte. Das ergriff mich namenlos, das Nicken. Ich fragte weiter: Du hast also das Gefühl, daß du nicht darüber wegkommen kannst? Wieder das Nicken. Ich kniete vor ihr nieder und nahm ihre Hand, die sie mir diesmal ohne Sträuben überließ.
»117. Fortsetzung folgt