Neapel protestiert gegen die Camorra
Selbst der Sohn eines Mafioso wendet sich gegen seine Eltern und deren Taten. Das gab es in Italien noch nie
VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN
Neapel Antonio Piccirillo ist 23 Jahre alt, blond und blauäugig. Und seit Sonntag kennt man den jungen Neapolitaner in ganz Italien. Bei einer Demonstration in seiner Heimatstadt gegen Gewalt und die Mafia griff Piccirillo zum Megafon. Er, der Sohn eines inhaftierten CamorraBosses, habe eine Nachricht für alle Söhne der neapolitanischen Mafia: „Liebt eure Väter, aber nehmt Abstand zu ihrem Lebensstil!“, rief der 23-Jährige. Die Camorra sei niederträchtig und widerlich. „Sohn eines Mafioso zu sein bedeutet, nicht gut zu leben, und ich bin es leid, kein gutes Leben zu führen.“
So etwas hat es in Italien noch nicht gegeben: Der Sohn eines Mafioso ruft die jungen Angehörigen der Clans zur Aufgabe auf. Und das bei einer öffentlichen Demonstration in Neapel, einer Stadt, die seit Jahrzehnten unter dem Treiben der Camorra leidet.
Der Anlass für die in Neapel einmalige Anti-Mafia-Demonstration am Sonntag mit knapp 1000 Teilnehmern war entsprechend besorgniserregend. Am Freitagnachmittag nahm in der Innenstadt ein Killer den Angehörigen eines verfeindeten Camorra-Clans ins Visier und feuerte aus einer Pistole sechs Schüsse auf den 32-Jährigen ab, der weiter in Lebensgefahr schwebt. Dabei wurde auch ein vierjähriges Mädchen getroffen. Ein Projektil bohrte sich durch beide Lungenflügel der Kleinen; die Großmutter erlitt einen Streifschuss. Das Mädchen befindet sich nach einer Notoperation noch im künstlichen Koma und schwebt in Lebensgefahr. Am Sonntag stattete der Präsident der italienischen Abgeordnetenkammer, Roberto Fico, der Familie in Neapel einen Besuch ab. Er sagte: „Wir brauchen mehr Polizisten und mehr Sozialarbeiter. Genug mit dem Gerede, jetzt muss etwas passieren.“Fußballfans zeigten beim Heimspiel des SSC Neapel ein Transparent mit der Aufschrift: „Noemi, gib nicht auf“.
Italienische Medien hoben hervor, dass die gut besuchte Demonstration am Sonntag so bemerkenswert gewesen sei, da nicht nur die üblichen Anti-Mafia-Organisationen, sondern auch viele normale, aufgebrachte Bürger teilgenommen hätten. Der Corriere della Sera schrieb von einem „Signal“.
Der Fall Noemi hat die seit langem unbeantwortete Debatte wieder angefeuert, wie der italienische Staat dem Organisierten Verbrechen beikommen und wie die Allgemeinheit vor der Gewalt rivalisierender Clans geschützt werden kann. Anti-Mafia-Organisationen zählen 900 unbeteiligte Mafia-Opfer in Italien. Erst Anfang April wurde ein 57-Jähriger vor einem Kindergarten bei Neapel erschossen, sein vierjähriger Enkel musste bei der Exekution zusehen. Bei dem Großvater soll es sich um das Mitglied eines Clans handeln.
„Das sind Szenen wie im Mittelalter“, sagte der Chef der nationalen Anti-Mafia-Behörde, Federico Cafiero de Raho, über den Vorfall vom Freitag. Das Attentat ereignete sich in einem belebten Wohnviertel mit zahlreichen Geschäften und vor allem nur 300 Meter vom Gefängnis Poggioreale entfernt. CamorraSohn Piccirillo sagte am Sonntag: „Ich wünsche mir, dass mehr Söhne der Camorra demonstrieren, um sich von ihren Eltern zu distanzieren.“Seine Eltern hätten ihm vor allem Angst und Sorgen vermittelt.