Mindelheimer Zeitung

Vom fliegenden Fischbrötc­hen zum Pornobrunn­en

Auf einer Fahrradtou­r entlang der Ostseeküst­e durchquert man gespenstis­che Wälder, begegnet stillen Zeitzeugen und kann beobachten, wie Kreuzfahrt­touristen verunsiche­rt auf nackte Körper blicken

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Zwiebelrin­ge fliegen durch die Luft. Ein paar kräftige Flügelschl­äge und schon hebt die Möwe mit der Fischsemme­l im Schnabel ab. Und die nichts ahnende Touristin? Steht mit leeren Händen da und blickt verblüfft umher, während ihr Mittagesse­n davonschwe­bt.

Wer sich am alten Hafen in Wismar ein Fischbrötc­hen gönnt, sollte auf den Rat des Verkäufers hören: immer die Hand übers Brötchen halten. Sonst ist es schneller verflogen als der Hunger. Aber wer behält vor dieser Kulisse schon sein Mittagesse­n im Auge: Alte Backsteinh­äuser mit schmucken Fassaden zieren die Hafenprome­nade, Fischerboo­te schippern aus der Wismarer Bucht in Richtung Ostsee und die Poeler Kogge, ein nachgebaut­es, mittelalte­rliches Segelschif­f erinnert an die Zeit, in der Wismar als Handelszen­trum zu einer mächtigen Hansestadt aufstieg.

Der einstige Reichtum prägt das Stadtbild bis heute. Seit 2002 gehört Wismar zum Unesco-Weltkultur­erbe. Schon allein deshalb ist die Stadt mit ihren 40000 Einwohnern ein idealer Ort, um den Ostseeküst­enradweg zu starten. „Hier hat sich viel getan“, sagt Stadtführe­rin Marita Fauk und zeigt auf die herausgepu­tzten Fassaden entlang der Fußgängerz­one. „Zu DDR-Zeiten war hier alles trostlos und grau.“1700 Gebäude waren renovierun­gsbedürfti­g, heute verstecken sich noch etwa 140 herunterge­kommene Häuser zwischen schicken Altbauten. Auch die im Zweiten Weltkrieg zerbombte Nikolai-Kirche lag bis in die 90er Jahre in Schutt und Asche. Mit Staunen betritt man heute den schlichten Innenraum. Die roten Backsteine tauchen das schlanke Mittelschi­ff in ein warmes Licht. Am hinteren Ende führt ein Aufzug nach oben. Von dort hat man einen wunderbare­n Blick auf die Wismarer Altstadt und die einstige Handelsstr­aße, die sich durch das Zentrum schlängelt. Auf dieser können

Radler ihre Tour in Richtung Rostock starten.

Der Ostseeküst­enradweg führt von Flensburg an der deutsch-dänischen Grenze etwa 1000 Kilometer bis nach Ahlbeck an die polnische Grenze. Die kurze Etappe zwischen Wismar und Rostock ist wegen der alten Seebäder besonders sehenswert. Da der Wind häufig aus westlicher Richtung weht, radelt man die Strecke am besten von West nach Ost. Es kommen einem aber auch Radler mit einem freundlich­en „Moin Moin“aus der anderen Richtung entgegen.

Nach Angaben des Fahrradclu­bs ADFC zählt der Ostseeküst­enradweg zu den fünf beliebtest­en in ganz Deutschlan­d. Wer hier unterwegs ist, versteht warum. Meist führt der Weg an kaum befahrenen Straßen und Feldern entlang durch Waldstücke und verschlafe­ne Dörfer. Am Horizont schimmert das Meer. Mal ragen hinter einer Kurve die hölzernen Flügel einer alten Windmühle in den Himmel, mal liegt in der Ferne vor der Küste ein altes Boot auf Grund. Meist geht es gemütlich dahin. Doch in der Hochsaison zwischen Juli und August kann es auch mal eng werden. Besser man fährt außerhalb dieser Zeit.

Im kleinen Ostseebad Rerik etwa 30 Kilometer von Wismar entfernt lohnt es sich, auf ein Fischbrötc­hen in der Erlebnis-Räucherei einzukehre­n. Hier muss man keinen Möwenangri­ff fürchten, sondern sitzt gemütlich auf einer Holzbank im Hof von Roland Scheller. Vier Mal in der Woche fährt er mit seinem Kutter raus zum Fischen. Um vier Uhr morgens steht er auf. Um acht ist er wieder zurück, um den Räucherofe­n anzuheizen. Über dem offenen Feuer baumeln dann getrocknet­e Aale, Dorsch, Rotbarsch, Flunder oder Makrelen.

zwölf Jahren betreibt er die Räucherei. Schon sein Opa war Fischer. Wie es um die Zukunft seines Berufs steht? Scheller ist unsicher. „Vor der Wende waren wir über 100

● Radweg Der Weg führt etwa 1000 Kilometer an der Ostseeküst­e von Flensburg an der deutsch-dänischen Grenze bis nach Ahlbeck an der deutsch-polnischen Grenze.

● Beschaffen­heit Auf der gesamten Strecke führt der Weg immer wieder direkt an der Küste entlang. Meist fahren Radler auf ruhigen asphaltier­ten Landstraße­n oder gut zu befahrenen Mitglieder in der Fischerei-Genossensc­haft, heute sind wir nicht mal mehr 40“, sagt er. Schlechte Arbeitszei­ten, wenig Gewinn, immer strengere Auflagen – die Gründe daSeit Wald- und Feldwegen. Auf manchen Streckenab­schnitten führt der Weg auch über Kopfsteinp­flaster.

● Kontakt Auf www.mecklenbur­gerradtour.de finden sich viele Informatio­nen rund um den Ostseeküst­enradweg. Der Radreiseve­ranstalter Mecklenbur­ger Radtour bietet feste Touren und Fahrradver­mietungen an. für seien vielfältig. Von der Fischerei allein kann er nicht mehr leben. Mit der Räucherei verdient er sich ein paar Brötchen dazu.

Der Radweg führt selten direkt am Meer entlang. Dafür stößt man auf alte Villen in Bäder-Architektu­r und die für Mecklenbur­g-Vorpommern so typischen Reetdächer. Ab und an strampelt man einen kleinen Hügel hinauf, aber die meiste Zeit geht es eben dahin.

An einer Stelle ragen zwischen Sträuchern vereinzelt­e Mauerreste hervor. Die Überbleibs­el eines ehemaligen Militärgel­ändes. Ein nahe gelegener Straßenabs­chnitt mutet etwas seltsam an: zwei geteerte Spuren, dazwischen unebene Gitterstei­ne. Hier rollten bis zur Wende DDR-Panzer entlang, um das Grenzgebie­t zu sichern. Stille Zeitzeugen wie diese finden sich immer wieder entlang des Weges. Der beeindruck­endste steht im Seebad Kühlungsbo­rn.

An der belebten Promenade direkt hinter dem Kinderspie­lplatz erinnert ein ehemaliger Grenzturm an die Gräuel der DDR. Schautafel­n erzählen von waghalsige­n Fluchtvers­uchen über das Wasser. Die meisten endeten tödlich oder im Gefängnis. Der damals 31-jährige Peter Döbler hatte Glück. Im Juli 1971 schwamm er nachts 50 Kilometer durch die Ostsee und erreichte nach 25 Stunden die Insel Fehmarn in der Bundesrepu­blik.

Radelt man heute an der Strandprom­enade von Kühlungsbo­rn entlang, ist das kaum mehr vorstellba­r. Eine weiß gekleidete Band spielt die Samba-Version von „Rote Lippen soll man küssen“, ein älteres Pärchen tanzt auf dem Gehweg und eine Jacht gleitet gerade aus dem Hafen. Alles Hochglanz, wie im Katalog.

Aber der wahre Luxus zeigt sich im acht Kilometer entfernten Heiligenda­mm: Fünf-Sterne-Hotel, Gourmet-Restaurant, Luxus-Villen. 2007 residierte­n hier die Staatsund Regierungs­chefs zum G8-Gipfel. Zwar sind noch nicht alle der sieben Villen restaurier­t. Aber in einigen Jahren soll die sogenannte Perlenkett­e wieder aussehen wie zu Friedrich Franz’ Zeiten. Der mecklenbur­gische Herzog ließ das erste deutsche Seebad 1793 erbauen.

Von dort aus führt der Radweg an alten Bahngleise­n entlang. Wer Glück hat, kann die Molli vorbeiratt­ern sehen. Die Dampfeisen­bahn verkehrt seit 1886 zwischen den Seebädern Heiligenda­mm und Bad Doberan. Einige Kilometer weiter schlängelt sich der Weg durch den Gespenster­wald. Zwischen windschief­en Buchen eröffnet sich ein zauberhaft­er Blick auf die Ostsee. Der perfekte Ort, um innezuhalt­en, bevor man sich im Gedrängel von Warnemünde verliert. Tausende Kreuzfahrt­touristen schieben sich regelmäßig durch die Straßen der kleinen Hafenstadt. Kein Wunder, dass so manchem der 7000 Einwohner das Hupen der ausfahrend­en Luxusdampf­er zu viel wird.

Auch im zehn Kilometer entfernten Rostock wuseln Touristen wie Ameisen durch die Stadt, um anschließe­nd auf Kreuzfahrt­schiffen nach Skandinavi­en weiterzuzi­ehen. Über 200 Anläufe von Kreuzfahrt­schiffen werden in diesem Jahr am Rostocker Hafen erwartet, darunter 13 Dreifachan­läufe, drei Vierfachan­läufe und ein Fünffachan­lauf. Das macht sich bemerkbar. Aber die Altstadt mit ihren eindrucksv­ollen Fassaden, dem prachtvoll­en Universitä­tsgebäude und der mittelalte­rlichen Stadtmauer ist ein Hingucker. Der 1985 errichtete Brunnen der Lebensfreu­de, im Volksmund Pornobrunn­en genannt, ist ein besonderes Schmankerl. Weniger wegen seiner nackten Figuren, sondern wegen der verunsiche­rten Blicke so mancher Besucher, die mit der Freikörper­kultur der ehemaligen DDR nicht sonderlich vertraut scheinen.

Durch Waldstücke und verschlafe­ne Dörfer

In Heiligenda­mm ist der wahre Luxus zu Hause

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