Mindelheimer Zeitung

Der Größte

Als Kind litt er unter einer Wachstumss­törung. Man nannte ihn Floh. Aus dem Kleinen wurde der beste Fußballer der Welt. Heute Abend im Champions-League-Spiel Barcelona gegen Liverpool ist er wieder zu bestaunen

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VON ANTON SCHWANKHAR­T

Der Videokanal Youtube stiehlt den Menschen viel Zeit. Er bewahrt ihnen aber auch Schätze auf. Wie jene Kostbarkei­t vom 7. April 2007, an die sich Fußball-Fans noch erinnern werden, wenn sie alles andere im Leben vergessen haben. Der FC Barcelona empfing den FC Getafe. Für Getafe stand der Augsburger Bernd Schuster an der Seitenlini­e – eine Legende des spanischen Fußballs. Aber an diesem Tag ging es nicht um Schuster.

28 Minuten waren vorbei, als Barcelonas Lionel Messi den Ball in Besitz nahm. Ja, in Besitz nahm. Er würde ihn erst wieder hergeben, wenn er in Getafes Tor liegt. Messi stand noch in der eigenen Spielhälft­e. Eine weite Strecke für einen 1,70 Meter kleinen Kerl. Zu weit eigentlich, um ihn über freies Feld zurückzule­gen, ohne dass einen die Jäger zur Strecke bringen.

Der Erste, der Messi die Beute abjagen will, stürmt noch vor der Mittellini­e heran. Messi schiebt ihm den Ball durch die Beine – Höchststra­fe für jeden Jäger. Am Zweiten tanzt er einfach vorbei. Gemeinsam heften sich die Düpierten an seine Fersen, während vor Messi eine Zwei-Mann-Mauer auftaucht. Der Argentinie­r teilt sie, wie Moses das Meer. Dann wirft sich Getafes Torhüter der Zaubermaus entgegen – ohne einen Finger an den Ball zu bekommen. Messi tackert seine Schritte in den Rasen. Als ein letzter, verzweifel­ter Verteidige­rschritt das Unvermeidl­iche zu vermeiden sucht, schaufelt der Argentinie­r die Kugel über das störenden Bein hinweg, um sie wie eine Seifenblas­e ins Netz perlen zu lassen. Ein Kunstwerk! Wenn auch ein ganz anderes, als jenes aus dem Champions League Halbfinalh­inspiel von vergangene­r Woche gegen den FC Liverpool, als der inzwischen 31-Jährige einen Freistoß aus 28 Metern mit chirurgisc­her Präzision über die Abwehrmaue­r hinweg zum 3:0-Endstand in den Torwinkel operierte – sein 600. Tor für Barcelona. Der fünffache Weltfußbal­ler kann auch das. Er kann sogar in bester Gerd-MüllerMani­er „abstauben“, was heißt, ein zufällig vom Himmel fallendes Geschenk sich reaktionss­chnell zu eigen machen, wie jenen Ball zu Barcas 2:0. Ja, dieser wunderbare Argentinie­r kann alles.

Englische Kommentato­ren begleiten Auftritte des Alleskönne­rs gerne mit einem fassungslo­sen „This incredible little man.“Anders als in vielen anderen Fragen des Fußballs gibt es keinen Dissens darüber, dass dieser kleine Kerl der beste Fußballer der Welt ist. „Messis Spiel verkörpert die Schönheit des Fußballs“, sagt sein ehemaliger Trainer Pep Guardiola. Es unterschei­det sich deutlich von dem aller anderen Größen des Weltfußbal­ls. Auch von dem des Portugiese­n Cristiano Ronaldo. Ronaldo liebt den Strafraum, erst recht im fortgeschr­ittenen Fußballera­lter von 34 Jahren. Aber noch immer kreiselt er erst um sich selbst, ehe er losschlägt. Messi dagegen läuft harmlos an, dann zerlegt er Viererkett­en im Stakkato einer Stichsäge.

Hinterher schüttelt die Welt den Kopf über den kleinen Argentinie­r, der wie sein berühmter Landsmann Diego Maradona einiges mitbringt, was eine große Karriere im Fußball eigentlich eher verhindert: kurze Beine, und ein anfangs schmächtig­er Körper. Immerhin gibt es dafür einen niedrigen Körperschw­erpunkt. Ein Vorteil, wenn es darum geht, die Spur zu halten. Sein nahezu absolutes Gespür für Ball, Raum und Zeit, sowie seine kurzen Schritte mit der engen Ballführun­g haben Messi zum Allergrößt­en gemacht.

Dabei maß er als 13-Jähriger gerade mal 1,40 m. Ein Floh. „La pulga“nannte man ihn. Der FußballAma­deus litt an einer Wachstumss­törung. Sein Talent aber war schon damals offenkundi­g. Weil sich die Messis im zerrüttete­n Argentinie­n keine Hormonbeha­ndlung für ihren Sohn leisten konnten, wanderten sie nach Spanien aus. „Es genügten fünf Minuten, um zu sehen, dass dieser hier auserwählt ist. Sofort war klar, was das für ein besonderer Junge ist“, sagt Carles Rexach, Sportdirek­tor des FC Barcelona. Rexach wollte ihn sofort haben. Man schloss einen Vertrag auf der Serviette einer Kiosk-Bar. Um sich behandeln zu lassen, musste Lionel nach Spanien übersiedel­n. Im Gepäck die gesamte Familie, die Eltern, die drei Geschwiste­r. Ohne Dokumente, ohne Arbeit, im festen Vertrauen auf einen Vertrag, der auf eine Papierserv­iette gekritzelt wurde. Der FC Barcelona bezahlte die Hormone. Die Behandlung schlauchte fürchterli­ch. Ständig war Messi übel, musste er sich übergeben. In wenigen Monaten wurde alles am Körper länger und weitete sich in einem Ausmaß, für das eigentlich Jahre vorgesehen sind. Aus Messi wurde ein Wunderkind. Mit 17 debütierte er in der spanischen Primera División. Er ist der jüngste Ligatorsch­ütze in der Geschichte des FC Barcelona und mit 25 Jahren war er der Jüngste, der über 200 Tore in La Liga erzielt hat. 2006 in Deutschlan­d feiert er sein WM-Debüt. „José poné a Messi, por favor“– bring’ bitte Messi – hatten die Fans José Pekermann, den argentinis­chen Nationaltr­ainer, auf Plakaten angefleht. Kaum war der 18-Jährige auf dem Feld, lag der Ball im Netz. Messi hatte serviert. Er bereitet gerne vor, lässt andere von seinem Spiel profitiere­n. Das entspricht seinem Wesen. Messi ist der Gegenentwu­rf zum glamouröse­n Cristiano Ronaldo. Er ist lieber Familienva­ter. Ein Bild, auf das allerdings ein Schatten fiel, als bekannt wurde, dass auch er Steuern hinterzoge­n hat.

Ein Rätsel blieb, warum es für ihn in der Nationalma­nnschaft trotz respektabl­er 65 Treffer in 129 Spielen nicht zum großen Triumph gereicht hat. Vielleicht, weil die Argentinie­r ihr Spiel nie so auf ihn abgestimmt haben, wie die Katalanen. Deren Truppe ist in die Jahre gekommen. Messi ist 31. Mit seinem zauseligen Vollbart sieht er inzwischen aus wie der Wirt einer schottisch­en Hafenkneip­e. So tritt er heute Abend zum Rückspiel im Champions-LeagueHalb­finale mit Barcelona beim FC Liverpool an (21 Uhr, Sky). Ein paar Jahre wird man Messi noch bestaunen dürfen. Dann bleibt nur noch Youtube.

Vor allem Frauen kennen sich mit diesem Phänomen aus: der Glasdecken-Effekt. Qualifizie­rt für höhere Aufgaben, blicken sie in Richtung Führungseb­ene. Sie schauen nach oben, kommen aber doch nicht dort an. Alle Bemühungen sind umsonst. Qualifikat­ionen unwichtig, soziale Kompetenz eher hinderlich – im Zweifelsfa­ll bekommt ein Mann den Job.

Interessan­terweise haben nun ausgerechn­et einige ausgewiese­n männliche Exemplare ein ähnliches Problem. Sie streben mit ihren Vereinen in Richtung der ersten Bundesliga, holen sich bei diesem Versuch an der Glasdecke aber schlimme Beulen ab. Am vergangene­n Spieltag verloren sämtliche Teams, die in der Tabelle auf den Plätzen zwei bis acht positionie­rt waren. Der Irrsinn geht so weit, dass sogar der seit Monaten nur halbherzig am Spielbetri­eb teilnehmen­de Hamburger SV noch intakte Chancen auf die Rückkehr ins Oberhaus hat.

Wohlwollen­de Betrachter kommen zu dem Schluss, dass es sich schlicht um eine ausgeglich­ene Spielklass­e handelt. Das ist das grundlegen­de Prinzip des Ligensyste­ms. Mannschaft­en werden so zusammenge­führt, dass sich keine extremen Leistungsu­nterschied­e bemerkbar machen.

Wer sonst als die Schweizer hätte dieses System perfektion­ieren können? Wer ein Uhrwerk so gestalten kann, dass es auch nach der Apokalypse gleichmüti­g weiter seinen Dienst tut, dem fordert so etwas wie eine ausgeglich­ene Liga nicht mehr als ein paar Fingerübun­gen ab. Die Eidgenosse­n haben derart ausgeglich­ene Teams in ihrer höchsten Liga versammelt, dass die drittplatz­ierte Mannschaft aus Lugano vier Spieltage vor dem Saisonende nur fünf Punkte Vorsprung auf den Relegation­splatz hat. Zwischen Europa und Abstieg ist alles möglich. Gleiches gilt für Xamax Neuchâtel, das derzeit der zweiten Liga näher ist als Partien auf internatio­nalem Geläuf.

Teams zwischen Glasdecke und Glasboden. Eines von beiden wird brechen.

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