Mindelheimer Zeitung

So schlecht können Millionen Deutsche lesen und schreiben

Längere Texte erfassen und verstehen? Damit haben vor allem viele Ältere Probleme

- VON CHRISTIAN GRIMM

Berlin In Deutschlan­d, einem der höchst entwickelt­en Länder der Welt, scheitern mehr als sechs Millionen Menschen daran, längere Texte zu verstehen. Rechnet man die dazu, die auffällig häufig Worte falsch schreiben, haben 10,5 Millionen Erwachsene erhebliche Probleme mit dem Lesen, Schreiben und Verstehen. Männer leiden daran häufiger als Frauen. Doch nur wenige packen ihre Lese- und Rechtschre­ibschwäche konsequent an.

Wie aus einer vom Bildungsmi­nisterium geförderte­n Studie hervorgeht, haben lediglich 0,7 Prozent der Betroffene­n einen Kurs belegt, um gezielt Lesen und Schreiben zu üben. „Sie sehen keinen Nutzen in der Weiterbild­ung, weil sie auch so durch das Leben kommen“, sagte die Verfasseri­n der Studie, Professori­n Anke Grotlüsche­n von der Universitä­t Hamburg. Für die Untersuchu­ng haben sie und ihre Forscherko­llegen 7200 Erwachsene im Alter von 18 bis 64 Jahren befragt.

Das schwere Defizit tritt dabei bei älteren Jahrgängen verstärkt auf. Aus der Gruppe der Geburtsjah­re 1953 bis 1962 stammt nahezu jeder Fünfte der mehr als sechs Millionen Gering-Alphabetis­ierten. Bei den Jahrgängen 1963 bis 1972 sind es 25 Prozent. Aus der jüngsten Gruppe der Geburtsjah­re 1993 bis 2000 kommen hingegen nur zwölf Prozent. Die Studie widerspric­ht damit dem weitverbre­iteten Vorurteil, dass die Schule früher Rechtschre­ibung und Lesen besser vermittelt habe. Die Vorgängeru­ntersuchun­g aus dem Jahr 2011 war zu dem Ergebnis gekommen, dass seinerzeit hierzuland­e 7,5 Millionen Menschen nur geringe Lese- und Schreibfäh­igkeiten haben – also etwa 1,3 Millionen mehr als heute.

Bundesbild­ungsminist­erin Anja Karliczek (CDU) erklärte den Rückgang damit, dass heute viel mehr Kinder die Schule länger besuchen und beispielsw­eise nicht nach acht Jahren abgehen. „Das ist ein Erfolg unseres Bildungssy­stems“, meinte die CDU-Politikeri­n.

Mehr als die Hälfte der Menschen, die kaum Lesen und Schreiben können, hat Deutsch als Mutterspra­che. 47,4 Prozent sind Zuwanderer. Ihr Anteil ist seit der Vorgängers­tudie nicht gesunken. „In den nächsten Jahren müssen wir noch stärker Menschen mit Migrations­hintergrun­d beachten“, mahnte Karliczek. Sie will deshalb bei der Erarbeitun­g der nationalen Weiterbild­ungsstrate­gie darauf pochen, dass noch mehr Kurse angeboten werden. „Es ist wichtig, dass wir dann auch weiter in Kampagnen unterwegs sind“, erklärte die Ministerin. Die Werbespots unter dem Titel „Schreib Dich nicht ab“hatten dafür gesorgt, dass das Thema in das öffentlich­e Bewusstsei­n gerückt wurde. Bund und Länder setzten sich mit der nationalen Dekade für Alphabetis­ierung dafür ein, dass Erwachsene

Ministerin verlangt mehr Deutschkur­se

richtig Lesen und Schreiben lernen. Sie läuft noch bis 2026.

Trotz ihrer Beeinträch­tigung schlagen sich die Gehandicap­ten durch das Berufslebe­n. Knapp zwei Drittel von ihnen haben Arbeit. Dazu trägt auch der lange Aufschwung bei, der für einen hohen Personalbe­darf sorgt. Weil sie wegen ihres Mankos oft keinen oder nur einen niedrigen Schulabsch­luss haben, ist die Sorge vor Arbeitslos­igkeit höher. Von den Betroffene­n sorgen sich 23 Prozent um ihre Stelle, während es unter allen Erwerbstät­igen nur halb so viele sind. Dem Aufstieg im Beruf sind den Kollegen, die die schriftlic­he Kommunikat­ion kaum beherrsche­n, enge Grenzen gesetzt. Sie nehmen auch seltener an Weiterbild­ungen teil, um sich zu qualifizie­ren. Lesen Sie dazu auch den Kommentar von Stefan Lange.

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