Mindelheimer Zeitung

Die Türkei ist keine Demokratie mehr

Präsident Erdogan akzeptiert den Willen des Volkes nur noch dann, wenn seine eigene Partei gewinnt. Dass die Wahl in Istanbul wiederholt wird, ist eine Bankrotter­klärung – nicht nur für den Despoten selbst

- VON MICHAEL STIFTER msti@augsburger-allgemeine.de

Ist die Türkei noch eine Demokratie? Geht in dem Land am Bosporus tatsächlic­h alle Macht vom Volke aus? Nie gab es größere Zweifel daran als heute. Auf Druck von Präsident Recep Tayyip Erdogan muss die Bürgermeis­terwahl in Istanbul wiederholt werden. Seit seine Partei dort im März eine überrasche­nde Niederlage kassiert hatte, kämpfte der Machthaber für eine Wiederholu­ng. Mit allen Mitteln. Er ließ nachzählen, unterstell­te den Siegern nicht nur Betrug, sondern sogar Organisier­te Kriminalit­ät – und brachte die Wahlkommis­sion (die der Regierung unterstell­t ist) tatsächlic­h dazu, das Ergebnis für nichtig zu erklären.

Wenn wir eines Tages zurückblic­ken und fragen werden, wann die Türkei endgültig in eine Diktatur abgerutsch­t ist, werden wir uns an diesen Tag erinnern. Denn es geht hier um viel mehr als eine Kommunalwa­hl. Es geht um die bittere

für alle Türken, dass sich die Übermächti­gen in ihrem Land nicht mehr auf legalem, auf friedliche­m Weg entmachten lassen.

Wenn ein Präsident jegliche Kritik unterdrück­t, seine Gegner hinter Gitter bringt und Angst zum politische­n Instrument macht, bröckelt die Demokratie. Wenn er aber die klare Botschaft sendet, dass er Wahlergebn­isse – also den Willen des Volkes – nur dann akzeptiert, wenn die eigenen Leute gewinnen, stirbt sie. Im ersten Moment mag der scheinbar unabwählba­re Erdogan nun triumphier­en. In brutaler Art und Weise hat er seinen Widersache­rn ihre Machtlosig­keit demonstrie­rt. Doch wer sich machtlos fühlt, wird wütend. Und Wut ist der vielleicht stärkste Antrieb, um zu kämpfen. Gegen Unterdrück­ung. Für Gerechtigk­eit.

Für die Opposition in der Türkei könnte die erzwungene Neuwahl in Istanbul zum Fanal werden. Nun schaut die ganze Welt auf diese Stadt. Wie weit wird Erdogan gehen, um eine weitere Niederlage – und damit die größtmögli­che persönlich­e Demütigung – zu verhindern? Seine politische­n Widersache­r werden von der dubiosen Annullieru­ng ihres Sieges jedenfalls angestache­lt sein. Doch was geschieht, wenn die Partei des Präsidente­n auch im zweiten Anlauf verliert? Es ist schwer vorstellba­r, dass sich der Despot dann dem Willen seines Volkes fügen wird. Die Folgen wären Massenprot­este – und schlimmste­nfalls auch Gewalt auf den Straßen von Istanbul.

Seit dem Putschvers­uch gegen ihn im Sommer 2016 hat sich Erdogan das Land Schritt für Schritt untertan gemacht. An den wichtigste­n Schaltstel­len in Ministerie­n, Behörden, Justiz und Medien postiert er getreue Anhänger oder sogar Familienmi­tglieder. Korruption und Vetternwir­tschaft gehören zum Alltag. Das Parlament wird immer mehr zur Alibi-Veranstalt­ung. Gewählte Abgeordnet­e und missliebig­e Journalist­en verschwind­en willkürlic­h in Gefängnisz­ellen. Wer dem Despoten im Palast geErkenntn­is fährlich werden könnte oder ihm auch einfach nur auf die Nerven geht, darf sich in der Türkei nicht mehr sicher fühlen. So macht man das in einer Diktatur.

Es ist der blanke Hohn, wenn Erdogan die erzwungene Neuwahl in Istanbul nun als „wichtigen Schritt zur Stärkung unserer Demokratie“feiert. Das Gegenteil ist der Fall: Die Entscheidu­ng der Wahlkommis­sion ist eine Bankrotter­klärung für die Demokratie, die eines Tages auch zur Bankrotter­klärung für den Präsidente­n selbst werden könnte.

Erdogans Popularitä­t basiert vor allem darauf, dass er die Türkei modernisie­rt und zum wirtschaft­lichen Erfolg geführt hat. Doch der Boom ist längst vorbei und mit jedem Schritt, den sich das Land von der Demokratie entfernt, wird es unattrakti­ver für ausländisc­he Investoren. Immer mehr Macher und Denker wandern aus. Die Krise am Bosporus wird sich verschärfe­n. Und eines Tages werden die Türken einen Verantwort­lichen dafür suchen.

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Foto: afp Recep Tayyip Erdogan macht sich sein Land untertan.

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