Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (117)
ULeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat. © Projekt Gutenberg
nd ist er es, fuhr ich zu fragen fort, ist seine Person die Ursache dieser Verdunkelung? Sie bejahte. Und kann ich etwas tun, um dich davon zu befreien, von ihm oder von der Drohung oder nur von dem Druck, der von ihm ausgeht? Sie flüsterte nachdenklich, mit zuckendem Mund: Vielleicht. So sage mir, wer es ist! frag ich, nenn mir seinen Namen. Da stand sie auf und trat einen Schritt zurück. Ach, murmelte sie gedehnt und lachte seltsam hochmütig oder verächtlich, das weißt du nicht? Du weißt nicht… ja, was willst du denn von mir? Auch ihr Blick war hart und böse geworden. Jetzt war die Reihe an mir, zu verstummen. Was hatte das zu bedeuten? Stellen Sie sich vor, wie vernagelt ich war, wie behext, daß ich trotz meines Argwohns, der freilich nur dann erwachte, wenn ich Waremme ein paar Tage nicht gesehen hatte, daß ich in meinem Innern noch immer nicht den Mut fand, ihn zu bezichtigen. So aufregend und verstörend
es einerseits für Anna war, daß Waremme mich zum Vertrauten gemacht und sie damit skrupellos verraten hatte, so sehr fühlte sie sich andererseits mir gegenüber erleichtert, das erkannte ich nunmehr deutlich. Aber davon hatte sie sich natürlich nichts träumen lassen, daß er über seine anscheinend so ekstatischen Enthüllungen ein süßliches Lügengebräu gegossen hatte, denn die Umwegigkeit und Winkelzügigkeit eines andern Menschen, wenn wir ihn auch noch so genau kennen, tritt nie völlig ins Bewußtsein, sie bleibt eben nur Kenntnis. In dem Augenblick, wo sie sich so verletzend schroff von mir abkehrte und nur immer halblaut hervorstieß: Geh schon, so geh schon, es ist ja schrecklich, daß du noch da bist, in dem Augenblick kam mir die Erleuchtung, und ich schrie es fast hinaus: Also doch er! Sie sagte nichts. Sie trat ans Fenster und ließ abermals das ganz leise Lachen hören, das zugleich hochmütig und verzweifelt klang. Nun gut, sagte ich und hatte das Gefühl, bleich zu werden bis in den Schlund hinunter, da ist nichts zu überlegen, ich sehe klar, jetzt kann ich handeln, du wirst nichts mehr von ihm zu fürchten haben. Damit ging ich. Von einem Kaffeehaus in der Nähe rief ich Waremmes Wohnung an, erkundigte mich, ob er zu Hause sei. Es hieß, er sei nach Bingen gefahren, käme erst anderntags zurück. Oh, meine Wut und Ungeduld. Am gleichen Abend schickte mir Anna einen Zettel, darauf stand: Unternimm nichts, es ist alles vergebens, du hackst dir nur ins eigene Fleisch. Nein, meine Liebe, dacht ich, jetzt gibt’s kein Ducken mehr, diesmal soll er mich nicht um den Verstand schwatzen, diesmal kommt’s zum Austrag, so oder so. Wie ich mir das So-oder-So vorstellte, weiß ich nicht mehr, jedenfalls machte ich wieder die Rechnung ohne den Wirt. Hören Sie denn, wie es ging, wie schändlich, wie erbärmlich die Rechnung mit dem Wirt ausfiel. Vor allem verzögerte sich Waremmes Rückkehr um zwei Tage. Ich war damals kein Mensch, der durch Warten stärker wird. Inzwischen schrieb Pauline Caspot, Hildegard liege krank am Scharlach. Ich, in erstickender Angst, bestürmte Anna, nach Hertford zu fahren. Sie sagt, sie kann nicht, sie hat die Kraft nicht. Es schweben zudem Verhandlungen mit einem Frankfurter Pianisten, bei dem sie eine Art Prüfung ablegen soll. Elli besteht mit feindseliger Hartnäckigkeit darauf, daß sie in einen regelmäßigen Beruf kommt, bald soll sie malen, bald Klavierlehrerin werden, bald Sprachen studieren, bald sich als Modistin etablieren, es ist höllisch, eine ewige Schikane. Dienstag war das Gespräch mit Anna, am Freitag kam Waremme zurück. Als ich gegen elf Uhr am Kasino vorüberging, stand er am Tor und unterhielt sich mit mehreren Herren. Er eilt mit ausgebreiteten Armen auf mich zu, als hätt er mich jahrelang nicht gesehen und sich nach mir gesehnt wie nach einem Bruder. Ich, schwindlig vor Aufregung, sage: Ich habe mit Ihnen zu sprechen, Waremme. Er blickt mich scharf an, die Brust wird straff, das Kreuz hohl, und er sagt: Ich begreife, Sie haben mein Vertrauen mißbraucht, Ihre Zunge nicht im Zaum halten können, gut, gehen wir zu mir. Er ruft eine Droschke, wir fahren in seine Wohnung. Was steht dem Herrn zu Diensten? fragt er kalt und spöttisch, als wir das Zimmer betreten haben. Ich sollte Sie einfach niederknallen, Waremme, sag ich, aber vielleicht ist’s schade um die Kugel, ich möchte den Skandal vermeiden und überlasse es Ihrer Findigkeit, mir eine andere Lösung vorzuschlagen, eine Genugtuung für Annas Ehre. Sie sehen schon aus diesen Floskeln, daß meine Entschlossenheit bereits gebrochen war. Er antwortet mit einem Achselzucken und sagt würdevoll: Ich verstehe keine Silbe, reden Sie wie ein vernünftiger Mensch. Außer mir ruf ich ihm zu: Wie weit wollen Sie die Komödie noch treiben, oder soll ich noch immer glauben, daß Angelo und Waremme zwei verschiedene Persönlichkeiten sind wie Ahriman und Ormuzd? Bekennen Sie wenigstens Farbe und lassen Sie uns die Sache erledigen, wie es sich unter Männern ziemt, oder ziehen Sie die Hundspeitsche vor? Er erblaßt, fährt sich mit der Hand an den Hinterkopf, sieht mich mit einem mitleidigen Erstaunen an, das mich gänzlich irritiert. Unter Männern? Nein, sagt er, benehmen Sie sich erst wie ein Mann und nicht wie ein dummer Junge, bitte, bitte, wehrt er mit beiden Händen ab, als ich auf ihn losstürzen will, das sind Wirtshausallüren, wenn Sie aber nach dem Komment verfahren wollen, ist ja dieser Dialog überflüssig. Hören Sie mich in Ruhe an, nachher können Sie mir meinetwegen Ihre Zeugen schicken, ich stehe zur Verfügung. Und nun kam das Unfaßliche, Unbeschreibliche, eine oratorische Leistung, wie ich sie nie wieder erlebt habe, dagegen war sogar Ihr Plädoyer vor den Geschworenen ein hilfloses Stammeln. Daß ich mich erkühne, ihn zu beschuldigen; worauf ich die Beschuldigung stütze? Auf Annas Anklage? Nein; auf ihre Andeutung bloß? Andeutung in Worten? Nein? auf stummes Zugeständnis? Darauf allein? Das hielte ich für ausreichend, ihn, ihn, Gregor Waremme wie ein Hausknecht anzupöbeln? Es sei ihm fern, Anna herabzusetzen, ihr Wille zur Wahrheit sei so wenig zu bezweifeln wie ihre Lauterkeit, aber hätte ich denn keine Augen im Kopf, daß ich nicht sehen könne, wie es um sie stünde? Dann möge ich mich gefälligst informieren, jeder psychiatrische Dilettant könne mir Aufschluß über die einschlägigen Erscheinungen geben. Oder haben Sie, Herr Privatdozent, fragt er mit zurückgeworfenem Kopf, niemals von psychomotorischen Hemmungen gehört, Zuständen, die sich bis zu katatonischem Stupor steigern können und von denen wir wissen, daß eine heftige Gemütserschütterung einen monatelangen Widerstand jäh zu durchbrechen vermag, verhängnisvoll oft für die Umgebung? Niemals von Erinnerungsfälschungen und Störungen der Phantasie, wo die völlige Gleichheit der Situation in aller Unschuld mit einer Person aus einem fremden Handlungskreis verquickt wird?