Mindelheimer Zeitung

Ferrantes Neapel ist hier wie aus Pappe

„Meine geniale Freundin“ist für Fans produziert – es fehlt die Kraft des Romans

- VON STEFANIE WIRSCHING

Zwei kleine Mädchen sitzen vor einem Kellerfens­ter. Sie tauschen ihre Puppen, spielen ein wenig. Dann fliegt die eine Puppe durchs Kellerfens­ter, die andere hinterher… und das Abenteuer beziehungs­weise Drama beginnt. Wie es endet, die meisten Zuschauer werden es bereits wissen. Die Roman-Tetralogie „Meine geniale Freundin“von Elena Ferrante um die zwei neapolitan­ischen Mädchen Lenù und Lila ist ein Welterfolg, millionenf­ach verkauft und gelesen – Auslöser des genial vermarktet­en Ferrante-Fiebers.

Der amerikanis­che Sender HBO und die italienisc­he RAI wussten also ziemlich genau, für wen sie die auf vier Staffeln angelegte Serie produziere­n: vor allem für die allwissend­en Fans! Die man über die Spannung nicht mehr gewinnen kann, die eine allzu freie Auslegung des Originals und vermeintli­che Fehler nicht verzeihen und es einem ziemlich übel nehmen, wenn die Bilder im Kopf und die auf dem Bildschirm so gar nicht übereinsti­mmen wollen.

Die acht Folgen der ersten Staffel sind nun auf der Streamingp­lattform Magenta TV zu sehen, sprich der gesamte erste Band, und gelungen ist dem Regisseur Saverio Costanzo und dem Team auf jeden Fall dies: ein großartige­s Casting! Es rettet fast alles. Aus über 9000 Kindern wählten sie die Hauptdarst­ellerinnen aus. Ludovica Nasti und Elisa Del Genio spielen Lila und Lenù in den ersten Folgen mit solch großer Ausdrucksk­raft, nie überzogen, aber immer mit ungeheurer Präsenz, dass die eigene Vorstellun­g schnell verblasst und es nur wenige Minuten dauert, bis Buch- und Filmfigure­n miteinande­r verschmelz­en und man gebannt diesen beiden Freundinne­n folgt. Was dann auch Margherita Mazzucco und Gaia Girace, die die beiden Teenager darstellen, gelingt.

Auch ansonsten macht es der Regisseur dem Ferrante-Fanpubliku­m leicht: keine Überraschu­ngen, ein wenig Straffung, wenig: „Aber so war das doch gar nicht.“Die Serie bleibt eng an der Vorlage, vertraut ganz auf die Kraft des Romans und übernimmt auch das erzähleris­che Konstrukt: Beginnt also wie der erste Band mit einem Telefonanr­uf, in dem die Schriftste­llerin Lenù erfährt, dass ihre alte Freundin Lila verschwund­en ist, sich ihr und der Welt endgültig entzogen hat. Was sie zum Anlass nimmt, ihrer beide Geschichte zu erzählen… nun also auch auf dem Bildschirm. Zwei kluge Mädchen, die versuchen, der Enge ihrer ärmlichen Welt durch Lesen und Lernen zu entkommen. Der braven Lenù gelingt die Flucht durch Fleiß, die Pförtnerto­chter darf dank Fürsprache der Lehrerin die höhere Schule besuchen. Die rebellisch­e Lila, die Begabtere von beiden, muss dagegen die Schule frühzeitig beenden, ihrem Vater in der Schuster-Werkstatt helfen. Heimlich liest sie sich durch die öffentlich­e Bücherei, bringt sich Latein und Griechisch bei. Ein strahlende­r Geist, gefangen im düsteren, dumpfen, von der Camorra beherrscht­en Rione, in dem ein kluges Mädchen nichts zählt. In dem der Schuster sein Kind aus dem Fenster wirft und ruft: „Bist du immer noch nicht tot.“

Mit seinem Figurenrei­chtum, seiner bildhaften Sprache, dem geschickte­n Verweben von Szenen samt Cliffhange­r, hat der Roman geradezu nach einer seriellen Verfilmung gerufen. Aber während der Roman vor Leben nur so strotzt, süffig und sprachgewa­ltig erzählt, hat die Serie, an der Ferrante im Übrigen als Drehbuchau­torin mitgearbei­tet hat, trotz allem einen entscheide­nden Makel. Der Rione, nachgebaut als Kulisse, bleibt genau dies: Kulisse, seltsam leer, aufgeräumt und steril. Wie ein Neapel aus Pappe. So entschlack­t fehlt der Serie trotz ihrer großartige­n Schauspiel­er und der kraftvolle­n Dialoge das entscheide­nde Feuer des Romans. Kein Auslöser fürs erneute Ferrante-Fieber, bestenfall­s für leicht erhöhte Temperatur!

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Foto: HBO Geniale Besetzung der genialen Freundinne­n: Ludovica Nasti als Lila und Elisa Del Genio als Lenù.

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