Ferrantes Neapel ist hier wie aus Pappe
„Meine geniale Freundin“ist für Fans produziert – es fehlt die Kraft des Romans
Zwei kleine Mädchen sitzen vor einem Kellerfenster. Sie tauschen ihre Puppen, spielen ein wenig. Dann fliegt die eine Puppe durchs Kellerfenster, die andere hinterher… und das Abenteuer beziehungsweise Drama beginnt. Wie es endet, die meisten Zuschauer werden es bereits wissen. Die Roman-Tetralogie „Meine geniale Freundin“von Elena Ferrante um die zwei neapolitanischen Mädchen Lenù und Lila ist ein Welterfolg, millionenfach verkauft und gelesen – Auslöser des genial vermarkteten Ferrante-Fiebers.
Der amerikanische Sender HBO und die italienische RAI wussten also ziemlich genau, für wen sie die auf vier Staffeln angelegte Serie produzieren: vor allem für die allwissenden Fans! Die man über die Spannung nicht mehr gewinnen kann, die eine allzu freie Auslegung des Originals und vermeintliche Fehler nicht verzeihen und es einem ziemlich übel nehmen, wenn die Bilder im Kopf und die auf dem Bildschirm so gar nicht übereinstimmen wollen.
Die acht Folgen der ersten Staffel sind nun auf der Streamingplattform Magenta TV zu sehen, sprich der gesamte erste Band, und gelungen ist dem Regisseur Saverio Costanzo und dem Team auf jeden Fall dies: ein großartiges Casting! Es rettet fast alles. Aus über 9000 Kindern wählten sie die Hauptdarstellerinnen aus. Ludovica Nasti und Elisa Del Genio spielen Lila und Lenù in den ersten Folgen mit solch großer Ausdruckskraft, nie überzogen, aber immer mit ungeheurer Präsenz, dass die eigene Vorstellung schnell verblasst und es nur wenige Minuten dauert, bis Buch- und Filmfiguren miteinander verschmelzen und man gebannt diesen beiden Freundinnen folgt. Was dann auch Margherita Mazzucco und Gaia Girace, die die beiden Teenager darstellen, gelingt.
Auch ansonsten macht es der Regisseur dem Ferrante-Fanpublikum leicht: keine Überraschungen, ein wenig Straffung, wenig: „Aber so war das doch gar nicht.“Die Serie bleibt eng an der Vorlage, vertraut ganz auf die Kraft des Romans und übernimmt auch das erzählerische Konstrukt: Beginnt also wie der erste Band mit einem Telefonanruf, in dem die Schriftstellerin Lenù erfährt, dass ihre alte Freundin Lila verschwunden ist, sich ihr und der Welt endgültig entzogen hat. Was sie zum Anlass nimmt, ihrer beide Geschichte zu erzählen… nun also auch auf dem Bildschirm. Zwei kluge Mädchen, die versuchen, der Enge ihrer ärmlichen Welt durch Lesen und Lernen zu entkommen. Der braven Lenù gelingt die Flucht durch Fleiß, die Pförtnertochter darf dank Fürsprache der Lehrerin die höhere Schule besuchen. Die rebellische Lila, die Begabtere von beiden, muss dagegen die Schule frühzeitig beenden, ihrem Vater in der Schuster-Werkstatt helfen. Heimlich liest sie sich durch die öffentliche Bücherei, bringt sich Latein und Griechisch bei. Ein strahlender Geist, gefangen im düsteren, dumpfen, von der Camorra beherrschten Rione, in dem ein kluges Mädchen nichts zählt. In dem der Schuster sein Kind aus dem Fenster wirft und ruft: „Bist du immer noch nicht tot.“
Mit seinem Figurenreichtum, seiner bildhaften Sprache, dem geschickten Verweben von Szenen samt Cliffhanger, hat der Roman geradezu nach einer seriellen Verfilmung gerufen. Aber während der Roman vor Leben nur so strotzt, süffig und sprachgewaltig erzählt, hat die Serie, an der Ferrante im Übrigen als Drehbuchautorin mitgearbeitet hat, trotz allem einen entscheidenden Makel. Der Rione, nachgebaut als Kulisse, bleibt genau dies: Kulisse, seltsam leer, aufgeräumt und steril. Wie ein Neapel aus Pappe. So entschlackt fehlt der Serie trotz ihrer großartigen Schauspieler und der kraftvollen Dialoge das entscheidende Feuer des Romans. Kein Auslöser fürs erneute Ferrante-Fieber, bestenfalls für leicht erhöhte Temperatur!