Stellen Sie sich vor, Sie wären Aynur!
Interview ARD-Talkerin Sandra Maischberger hat einen Kinofilm über den sogenannten Ehrenmord an Hatun Sürücü, genannt Aynur, produziert. Warum sie der Fall so bewegt
Frau Maischberger, am 7. Februar 2005 wird die 23-jährige Hatun Sürücü, genannt Aynur, in Berlin auf offener Straße erschossen. Der Mörder ist ihr eigener Bruder, das Motiv die westlich orientierte Lebensweise der jungen Mutter. Sie sind die Produzentin eines Kinofilms über den Fall und betreten damit Neuland. Warum war es Ihnen so wichtig, diese Geschichte auf der großen Leinwand zu erzählen? Sandra Maischberger: Die Geschichte hat sich ihren Raum genommen, von einem Projekt, das als Dokudrama angelegt war, zu einem Spielfilm mit großen Bildern und großen Gefühlen. So habe ich es empfunden. Diese künstlerische Überlegung war die eine Seite. Auf der anderen Seite wollten wir auch junge Zuschauer erreichen. Das kann mit einem Kinofilm besser funktionieren.
Im Bestreben um größtmögliche Authentizität wurden diverse Gespräche mit Beteiligten geführt. Inwiefern mussten Sie während dieser Recherchen persönliche Ansichten noch einmal neu kalibrieren?
Maischberger: Weil ich Journalistin bin und diese Geschichte kannte, dachte ich, ich wüsste über diesen Fall Bescheid. Aber ich kannte ihn eben doch nur von der nachrichtlichen Seite. Das war mein größtes Aha-Erlebnis. Ich wusste, dass es diese junge Frau gab, die von ihrem Bruder ermordet wurde. Hintergrund ist ein sogenannter Ehrenmord. Als ich mich näher damit befasste, wurde mir klar, dass ich überhaupt nichts über diese Frau wusste. Ich wusste nicht, wer Aynur ist, welche Träume sie hatte, wie sie leben oder wie das Verhältnis zu ihrer Familie und den Brüdern war. Diese Leerstelle habe ich gefüllt.
Was wissen Sie jetzt? Maischberger: Einerseits hat Aynur unter dieser Familie gelitten, die sie mit überkommenen Wertvorstellungen konfrontiert hat. Andererseits hat sie diese Familie so sehr geliebt, dass sie sich nicht von ihr lösen konnte. Hätte sie sich lösen können, wäre sie heute vermutlich noch am Leben. Diese Dinge haben meinen Blick auf diese Art von Leben, die in meiner Stadt passiert, noch einmal neu geschärft. Ich lebe ja in Berlin.
Konnten Sie dieses Nichtloslassenkönnen nachvollziehen?
Maischberger: Stellen Sie sich doch mal vor, Sie wären das. Ich habe neulich eine interessante Reportage gelesen. Es ging um zwei Frauen, die eine aus einem orthodoxen jüdischen Kontext, die andere aus einer orthodoxen christlichen Kleinstgemeinschaft, die beide im Alter von 16 Jahren verheiratet wurden, aus ganz ähnlichen Moralvorstellungen. Das macht Aynur für mich so universell und bringt sie mir so nahe. Es gibt seit Menschheitsgedenken eine männliche Dominanz, eine männliche Gewalt über Frauen. Ebenso lang gibt es den Versuch, das mit irgendeinem Mäntelchen zu legitimieren. Das ist mal Religion, mal Tradition, Brauch oder Sitte. Und wir mit unserem christlich geprägten Hintergrund sind noch gar nicht so weit davon entfernt, dass auch bei uns der Versuch gemacht wurde, die Sexualität der Frauen und auch ihren Lebensweg mit Moralvorstellungen zu kontrollieren. Was Aynur 2005 in Berlin für sich zu erkämpfen versucht hat, ist eigentlich sehr gegenwärtig und ein ganz universelles Frauenthema.
Kann man in einer Zeit allgegenwärtiger Empörung nicht nur verlieren, wenn man ein so heißes Eisen anpackt? Maischberger: Ich verstehe, was Sie meinen. Ich habe das auch lange so gesehen. Aber dann habe ich gedacht, wenn wir dieses heiße Eisen nicht anpacken, wird es am Ende vielleicht von denen angepackt, die es missbrauchen, um ganze Gruppen zu diskreditieren. Ich habe das Gefühl, dass die große Mitte der Gesellschaft dieses Feld viel zu lange anderen überlassen hat.
Wie genau meinen Sie das? Maischberger: Ich habe mich neulich mit einer Politikerin der Grünen unterhalten, die den Film gesehen hat. Sie meinte, das sei doch ein AfDThema. Ich habe sie gefragt, seit wann das denn ein AfD-Thema ist. Hier geht es um Frauenrechte, um Selbstbestimmung und Achtung, also um linke Selbstverständlichkeiten. Das ist meine Haltung dazu. Vielleicht kann ich nicht verhindern, dass der Film aus der sehr simplen und völlig falschen Sicht für den Schlachtruf „Der Islam ist schlecht“missbraucht wird. Aber der Film sagt das gerade nicht: Es ist ein junges muslimisches Mädchen mit seiner Mutter, das als Kronzeugin den Mörder vor Gericht bringt. Ich habe das Gefühl, dass wir das Feld wirklich den Falschen überlaswollte sen, wenn wir nicht auf Missstände hinweisen, ohne zu simplifizieren.
Wo ziehen Sie Ihre eigene rote Linie, was man hierzulande dulden, tolerieren und akzeptieren kann? Maischberger: Ich sehe das so: Je unübersichtlicher eine Lage zu sein scheint, desto klarer oder einfacher ist die Antwort. Wir haben Menschenrechte, die universell und als Teil unserer Verfassung etabliert sind. Universell heißt, diese Rechte gelten für jeden, egal, wer er ist, wo er lebt, welche Hautfarbe er hat und welche Religion er die seine nennt. Das ist nicht diskutierbar, sondern ein ganz klarer Leitfaden. Deswegen geht es in diesem Film auch nicht um Religion in dem Sinne. Es ist kein Film „Muslime gegen Christen“oder „Deutsche gegen Ausländer“. Es geht um Fundamentalismus und Menschenrechte, um ideologische versus liberale Ansichten. Das ist die eigentliche Trennlinie. Deshalb war es für uns auch möglich, mit diesen ganzen jungen Schauspielern aus muslimischen Familien zu arbeiten. Wir leben zusammen in einer Welt, in der wir uns immer gegen fundamentalistische Tendenzen wehren müssen. Egal, ob das rechte oder fundamental-religiöse Radikalismen sind, die uns bedrohen, wir ziehen da an einem Strang.