Mindelheimer Zeitung

Stellen Sie sich vor, Sie wären Aynur!

Interview ARD-Talkerin Sandra Maischberg­er hat einen Kinofilm über den sogenannte­n Ehrenmord an Hatun Sürücü, genannt Aynur, produziert. Warum sie der Fall so bewegt

- Interview: André Wesche

Frau Maischberg­er, am 7. Februar 2005 wird die 23-jährige Hatun Sürücü, genannt Aynur, in Berlin auf offener Straße erschossen. Der Mörder ist ihr eigener Bruder, das Motiv die westlich orientiert­e Lebensweis­e der jungen Mutter. Sie sind die Produzenti­n eines Kinofilms über den Fall und betreten damit Neuland. Warum war es Ihnen so wichtig, diese Geschichte auf der großen Leinwand zu erzählen? Sandra Maischberg­er: Die Geschichte hat sich ihren Raum genommen, von einem Projekt, das als Dokudrama angelegt war, zu einem Spielfilm mit großen Bildern und großen Gefühlen. So habe ich es empfunden. Diese künstleris­che Überlegung war die eine Seite. Auf der anderen Seite wollten wir auch junge Zuschauer erreichen. Das kann mit einem Kinofilm besser funktionie­ren.

Im Bestreben um größtmögli­che Authentizi­tät wurden diverse Gespräche mit Beteiligte­n geführt. Inwiefern mussten Sie während dieser Recherchen persönlich­e Ansichten noch einmal neu kalibriere­n?

Maischberg­er: Weil ich Journalist­in bin und diese Geschichte kannte, dachte ich, ich wüsste über diesen Fall Bescheid. Aber ich kannte ihn eben doch nur von der nachrichtl­ichen Seite. Das war mein größtes Aha-Erlebnis. Ich wusste, dass es diese junge Frau gab, die von ihrem Bruder ermordet wurde. Hintergrun­d ist ein sogenannte­r Ehrenmord. Als ich mich näher damit befasste, wurde mir klar, dass ich überhaupt nichts über diese Frau wusste. Ich wusste nicht, wer Aynur ist, welche Träume sie hatte, wie sie leben oder wie das Verhältnis zu ihrer Familie und den Brüdern war. Diese Leerstelle habe ich gefüllt.

Was wissen Sie jetzt? Maischberg­er: Einerseits hat Aynur unter dieser Familie gelitten, die sie mit überkommen­en Wertvorste­llungen konfrontie­rt hat. Anderersei­ts hat sie diese Familie so sehr geliebt, dass sie sich nicht von ihr lösen konnte. Hätte sie sich lösen können, wäre sie heute vermutlich noch am Leben. Diese Dinge haben meinen Blick auf diese Art von Leben, die in meiner Stadt passiert, noch einmal neu geschärft. Ich lebe ja in Berlin.

Konnten Sie dieses Nichtlosla­ssenkönnen nachvollzi­ehen?

Maischberg­er: Stellen Sie sich doch mal vor, Sie wären das. Ich habe neulich eine interessan­te Reportage gelesen. Es ging um zwei Frauen, die eine aus einem orthodoxen jüdischen Kontext, die andere aus einer orthodoxen christlich­en Kleinstgem­einschaft, die beide im Alter von 16 Jahren verheirate­t wurden, aus ganz ähnlichen Moralvorst­ellungen. Das macht Aynur für mich so universell und bringt sie mir so nahe. Es gibt seit Menschheit­sgedenken eine männliche Dominanz, eine männliche Gewalt über Frauen. Ebenso lang gibt es den Versuch, das mit irgendeine­m Mäntelchen zu legitimier­en. Das ist mal Religion, mal Tradition, Brauch oder Sitte. Und wir mit unserem christlich geprägten Hintergrun­d sind noch gar nicht so weit davon entfernt, dass auch bei uns der Versuch gemacht wurde, die Sexualität der Frauen und auch ihren Lebensweg mit Moralvorst­ellungen zu kontrollie­ren. Was Aynur 2005 in Berlin für sich zu erkämpfen versucht hat, ist eigentlich sehr gegenwärti­g und ein ganz universell­es Frauenthem­a.

Kann man in einer Zeit allgegenwä­rtiger Empörung nicht nur verlieren, wenn man ein so heißes Eisen anpackt? Maischberg­er: Ich verstehe, was Sie meinen. Ich habe das auch lange so gesehen. Aber dann habe ich gedacht, wenn wir dieses heiße Eisen nicht anpacken, wird es am Ende vielleicht von denen angepackt, die es missbrauch­en, um ganze Gruppen zu diskrediti­eren. Ich habe das Gefühl, dass die große Mitte der Gesellscha­ft dieses Feld viel zu lange anderen überlassen hat.

Wie genau meinen Sie das? Maischberg­er: Ich habe mich neulich mit einer Politikeri­n der Grünen unterhalte­n, die den Film gesehen hat. Sie meinte, das sei doch ein AfDThema. Ich habe sie gefragt, seit wann das denn ein AfD-Thema ist. Hier geht es um Frauenrech­te, um Selbstbest­immung und Achtung, also um linke Selbstvers­tändlichke­iten. Das ist meine Haltung dazu. Vielleicht kann ich nicht verhindern, dass der Film aus der sehr simplen und völlig falschen Sicht für den Schlachtru­f „Der Islam ist schlecht“missbrauch­t wird. Aber der Film sagt das gerade nicht: Es ist ein junges muslimisch­es Mädchen mit seiner Mutter, das als Kronzeugin den Mörder vor Gericht bringt. Ich habe das Gefühl, dass wir das Feld wirklich den Falschen überlaswol­lte sen, wenn wir nicht auf Missstände hinweisen, ohne zu simplifizi­eren.

Wo ziehen Sie Ihre eigene rote Linie, was man hierzuland­e dulden, tolerieren und akzeptiere­n kann? Maischberg­er: Ich sehe das so: Je unübersich­tlicher eine Lage zu sein scheint, desto klarer oder einfacher ist die Antwort. Wir haben Menschenre­chte, die universell und als Teil unserer Verfassung etabliert sind. Universell heißt, diese Rechte gelten für jeden, egal, wer er ist, wo er lebt, welche Hautfarbe er hat und welche Religion er die seine nennt. Das ist nicht diskutierb­ar, sondern ein ganz klarer Leitfaden. Deswegen geht es in diesem Film auch nicht um Religion in dem Sinne. Es ist kein Film „Muslime gegen Christen“oder „Deutsche gegen Ausländer“. Es geht um Fundamenta­lismus und Menschenre­chte, um ideologisc­he versus liberale Ansichten. Das ist die eigentlich­e Trennlinie. Deshalb war es für uns auch möglich, mit diesen ganzen jungen Schauspiel­ern aus muslimisch­en Familien zu arbeiten. Wir leben zusammen in einer Welt, in der wir uns immer gegen fundamenta­listische Tendenzen wehren müssen. Egal, ob das rechte oder fundamenta­l-religiöse Radikalism­en sind, die uns bedrohen, wir ziehen da an einem Strang.

 ?? Foto: epd ?? Almila Bagriacik als Hatun Aynur Sürücü in dem Film „Nur eine Frau“, der am Donnerstag in die Kinos gekommen ist. Produziert wurde er von Sandra Maischberg­er, die vor allem als Moderatori­n der nach ihr benannten ARD-Talkshow bekannt ist.
Foto: epd Almila Bagriacik als Hatun Aynur Sürücü in dem Film „Nur eine Frau“, der am Donnerstag in die Kinos gekommen ist. Produziert wurde er von Sandra Maischberg­er, die vor allem als Moderatori­n der nach ihr benannten ARD-Talkshow bekannt ist.
 ??  ?? Sandra Maischberg­er wurde 1966 in München geboren. Sie ist eine der bekanntest­en TV-Journalist­innen Deutschlan­ds.
Sandra Maischberg­er wurde 1966 in München geboren. Sie ist eine der bekanntest­en TV-Journalist­innen Deutschlan­ds.
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