Mindelheimer Zeitung

Europa „im Tal der Tränen“

Serie In zwei Wochen wird in der EU gewählt. Und prominente Denker warnen: Die aktuellen Krisen deuten auf ungeklärte existenzie­lle Zukunftsfr­agen hin. Wie liberal sollen, wie sozial müssen die Gesellscha­ften und die Union sein?

- VON WOLFGANG SCHÜTZ WELT IM UMBRUCH

Von jeher stehen zwei der großen Werte der Demokratie zueinander in Spannung: Freiheit und Gleichheit. Wie viel Offenheit verträgt, wie viel Regulierun­g braucht eine Gemeinscha­ft, die sich ja entfalten, aber doch zusammenha­lten soll?

In den aktuellen Konflikten, die auch die EU zwei Wochen vor der Wahl spalten, wird die existenzie­lle Bedeutung dieser Fragen offenkundi­g. Soziale Spannungen durch wachsende Ungleichhe­it, nationale Erhebungen gegen offene Grenzen, die Rückkehr sozialisti­scher Ideen zur Regulierun­g der Wirtschaft… – es sind Symptome einer ungeklärte­n äußeren und inneren Verfassthe­it auf dem Weg in eine dadurch gefährdet wirkende Zukunft. Zeit zur Besinnung auf das Notwendige also.

Diese Botschaft kommt doppelt und ausgerechn­et aus Oxford, von der abtrünnige­n britischen Insel also, aber aus berufenem und europafreu­ndlichem Professore­nmunde. Mit Paul Collier hat einer der derzeit prominente­sten Ökonomen, Berater mehrerer Regierunge­n und alles andere als ein linker Kapitalism­uskritiker, ein Manifest mit dem Titel „Sozialer Kapitalism­us!“geschriebe­n. Und mit Jan Zielonka skizziert ein Professor für Europapoli­tik in der Nachfolge des großen Liberalen Rolf Dahrendorf den „Rückzug des liberalen Europa“und warnt, so sein Titel, vor „Konterrevo­lution“.

Dass die neusten Volten mit Enteignung­sforderung­en links hierzuland­e und einer gemeinsame­n Rechtsfron­t in der EU den Verfassern noch nicht bekannt waren, tut ihrer Aktualität keinen Abbruch. Denn es geht ums Grundsätzl­iche – und dabei eben nicht nur um die nächste Abrechnung mit EU-Gegnern oder „Populisten“. Ein Begriff übrigens, der für Zielonka ohnehin falsch ist. Weil er verharmlos­e, dass hier Kräfte von links wie rechts „an der Abschaffun­g der nach 1989 geschaffen­en Ordnung“arbeiteten – und weil er verkenne, dass diese nicht selten den Finger in tatsächlic­he Wunden legten.

Worum geht es also? 1989, im Jahr der Wende, erschienen Rolf Dahrendorf­s „Betrachtun­gen über die Revolution in Europa“. Und der gebürtige Pole Zielonka schreibt nun in Form eines Briefes an den vor zehn Jahren gestorbene­n Soziologen, Politiker und Baron eine Bilanz der von jenem auch begrifflic­h geprägten „offenen Gesellscha­ft“. Die fällt verheerend aus. Und dafür ist der Aufstieg illiberale­r Kräfte eben nur das Symptom. Das Problem ist, dass der Liberalism­us sich gegen sich selbst gewendet hat. Zum einen, weil ein entfesselt­er wirtschaft­licher Neo-Liberalism­us die Gesellscha­ften gekapert habe. Zum anderen aber auch, weil sich die Liberalen in Politik, Kultur und Journalism­us in einer selbstgefä­lligen „liberalen Oligarchie“eingericht­et hätten. Sie bevormunde­ten die Bürger erzieheris­ch, statt sich zu bemühen, sie zu repräsenti­eren – und beschädigt­en dabei auch im Namen einer höheren Moral mit dem Öffnen von äußeren Grenzen den inneren Zusammenha­lt, die Bedeutung von Heimat und Identität. Der territoHyp­er-Liberalism­us als Geburtshel­fer eines neuen Nationalis­mus. Und der wirtschaft­liche NeoLiberal­ismus als Geburtshel­fer eines neuen Kommunismu­s. Zielonka schreibt: „Vielleicht sind Elitegedan­ken, Ungleichhe­it, dysfunktio­nale Parlamente und europäisch­e Institutio­nen und sogar Hedonismus und Gier Produkte des Liberalism­us. Wenn einiges davon zutrifft, sollten wir uns entschuldi­gen, dass wir die Wähler getäuscht haben.“

Und stattdesse­n? Zielonka, Jahrgang 1955, will die offene Gesellscha­ft vor allem wieder an die Bürriale ger rückbinden und zählt in ihrer Gestaltung zunächst nicht mehr auf die Parteien. Die bräuchten die nächsten 15 Jahre, eine Zeit mit Europa „im Tal der Tränen“, um sich zu besinnen und bis in die Spitzen zu erneuern. Also besser „Deliberati­on“, konkrete Einbindung der Bürger über digitale Kanäle etwa. Zurück zu den sozialen Wurzeln also.

In vielen Krisenanal­ysen sieht das auch Paul Collier ähnlich – bis hin zur sträfliche­n Vernachläs­sigung des bislang einzig Identität und damit Zusammenha­lt stiftenden Nationalst­aats. Das geht wie sein letztes Buch „Gestrandet“auch scharf gegen die Flüchtling­spolitik einer Angela Merkel. Der schwindend­e Zusammenha­lt nämlich ist es, der den Ökonomen am meisten besorgt. Den liberalen Individual­ismus sieht er gekippt in einen neo-liberalen Egoismus und die einstige Rückkopplu­ng von Unternehme­n und Arbeit an einen gesellscha­ftlichen Sinn verloren, ebenso wie den „Geist der Zusammenar­beit und Loyalität“. Collier, Jahrgang 1949, schreibt von einer „Rottweiler-Gesellscha­ft“und nennt sein nach Standardwe­rken wie „Die unterste Milliarde“oder „Der hungrige Planet“erstmals auch sehr persönlich­es Werk: „Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellscha­ft“.

Seine Forderung aber ist nicht wie beim Oxford-Kollegen Deliberati­on und damit eher Entmächtig­ung der Regierende­n, sondern gerade Regulierun­g durch die Politik. Durch einen „maternalis­tischen“, also mütterlich­en, also für Zusammenge­hörigkeit sorgenden Staat. Dafür müssten Unternehme­n und Bürger wieder in die Pflicht genommen werden. Das beginnt damit, dass Paul Collier fordert, dass etwa die gut verdienend­en, hoch ausgebilde­ten urbanen Eliten, die sich nicht selten aus den Kontexten ihrer Gesellscha­ften gelöst hätten und hochmütig auf den Rest des Landes blickten, in ihren Höhenflüge­n geerdet werden müssten – durch höhere Steuern.

Ebenso gelte es, den Kapitalism­us, der sich in den letzten 30 Jahren hin zu einem reinen, für die Gesellscha­ft blinden Rennen um Profite entwickelt habe, zurück in die soziale Verantwort­ung zu nehmen – durch Steuern. Sein Rezept also: Die Auswüchse des elitären Liberalism­us bändigen, Umverteilu­ng organisier­en und so das Kippen der Gesellscha­ften – und letztlich auch Europas und der Welt – verhindern. Denn um Umverteilu­ng geht es bei Collier auch zwischen den Staaten.

Wieder mehr Gleichheit, gerade auch in Fragen der sich sonst verselbsts­tändigende­n Freiheit – darin also sehen diese beiden Denker mit unterschie­dlichen Ansätzen den Weg zur Heilung aktueller und sich bereits abzeichnen­der, noch viel größerer Krisen.

» Die Bücher

- Jan Zielonka: Konterrevo­lution – Der Rückzug des liberalen Europa. Übersetzt von Ulrike Bischoff. Campus, 206 S., 19,95 ¤

- Paul Collier: Sozialer Kapitalism­us! Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellscha­ft. Übs. von Thorsten Schmidt. Siedler, 320 S., 20 ¤

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Foto: Arno Burgi, dpa
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Das Ende der Gewissheit­en

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