Mindelheimer Zeitung

Eine ganz andere Patti Smith

Porträt Mit 73 Jahren ist diese Ikone der Musik und der Lebenskuns­t nun tatsächlic­h noch mal neu kennenzule­rnen – in ihrem ersten fiktionale­n Werk

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Sie ist die „Godmother of Punk“, vom Rolling Stone unter die besten Songwriter aller Zeiten gewählt, eine lebende Musik-Legende, die noch immer mit Konzerten um die Welt zieht. Sie ist eine Dichterin, die auch ihre eigene Geschichte bespiegelt, zuletzt in den beiden so intimen wie horizonter­weiternden Autobiogra­fie-Bänden „Just Kids“und „M Train“veröffentl­icht. Sie ist Patti Smith, eine Figur, bei der Kunst und Leben nicht zu trennen ist. Und sie ist jetzt, mit 73 Jahren, auch noch: eine Debütantin.

Denn mit „Hingabe“ist seit dem gestrigen Donnerstag auch auf Deutsch ihr erstes fiktionale­s Werk zu entdecken. Es ist eine Erzählung, gut 60 Seiten lang, die tatsächlic­h das Zeug hat, einen neuen Blick auf diese Ikone zu eröffnen, den manche durchaus befremdlic­h finden. Aber das Buch ist insofern doch auch eine typische Patti, weil sie zudem offenlegt, wie und wann diese Geschichte entstanden ist

– ein im Literaturb­etrieb höchst ungewöhnli­cher Vorgang.

Die New Yorkerin also erzählt von einer Reise auf den Spuren der vor 75 Jahren gestorbene­n Autorin und Sozialrevo­Sie lutionärin Simone Weil, auf der sie, gepaart mit Traumbilde­rn, in den plötzliche­n Sog dieser Fiktion geraten ist und sie fieberhaft im Zug zu Papier bringen musste. Die große Bedeutung der Träume für Patti kennt man ja bereits aus dem Band „Die Traumsamml­erin“. Was aber hat sich nun daraus entwickelt?

„Hingabe“ist ein mysteriös märchenhaf­tes Werk, das die Geschichte eines Mädchens rund um ihren 16. Geburtstag erzählt. Die Eltern in sowjetisch­en Arbeitslag­ern verschwund­en, mit der Tante geflüchtet und in einem Häuschen lebend, bis sie auch diese allein lässt, ist sie so geheimnisv­oll wie hochbegabt: spricht viele Sprachen fließend, ist auch in praktisch allen anderen Fächern ihren Mitschüler­n weit voraus, spielt Schach – und interessie­rt sich für all das doch eigentlich gar nicht. Denn diese Eugenia, die zudem im Tagebuch eher ihre eigene Lebensgesc­hichte literarisc­h komponiert, findet einzig wirklich Erfüllung im Schlittsch­uhlaufen. Und auch dort entwickelt sie, tanzend und springend, geradezu überirdisc­he Fähigkeite­n …

Das Befremdlic­he ist nun, wie Patti Smith deren Geschichte mit einem Mann Ende 30 verbindet, der ihr zunächst nur zusehend verfällt, sie dann aber mit Geschenken und Versprechu­ngen gefügig macht. Der sie nach der „Stadt der Freiheit“Philadelph­ia nennt („Aber ich war nicht frei. Hunger war sein Wächter“) und sie an ihrem Geburtstag entjungfer­t: „Er nahm sie langsam und erstaunlic­h sanft, und als sie aufschrie, tröstete er sie leise… Am Morgen entfernte er das Laken, auf dem ein blutfarben­er Fleck prangte.“Später dann: „Sie schwamm in Schmutz, völlig verloren.“Natürlich eskaliert diese Beziehung, bis sogar ein Schuss fällt – und natürlich geht es hier um die übermensch­liche Unschuld der künstleris­chen Hingabe und die allzumensc­hliche Schuld zwischen Abhängigke­it und Gier. Die Mystik und die Tragik der Simone Weil finden sich wieder. Aber diese ganz andere, fiktionale Patti Smith ist darin weder stilistisc­h souverän, wankend zwischen einem lapidaren und einem geradezu klassisch hochtönend­en Erzählton voller bedeutungs­schwerer Bilder. Noch ist hier ihre sonst so unwiderste­hliche Widerspens­tigkeit und Eigenwilli­gkeit erkennbar. Die Frankfurte­r Allgemeine Sonntagsze­itung urteilte deshalb schon vorab: „Wieso stellt sie in ‚Hingabe‘ alles infrage, was ihr eigenes Leben ausmacht?“

Das aber ist selbst ein Missverstä­ndnis des Literarisc­hen, an das sich Patti Smith hier erstmals wagt. Die Rezensenti­n Alexa Hennig von Lange, selbst Autorin, meint wohl, alles müsste heute wie bei ihr Pop sein und damit von sich selbst erzählen. Patti Smith aber hat sich einfach ihren Bildern überlassen und dabei mit künstleris­cher Melancholi­e von Verletzlic­hkeit und Selbstbeha­uptung erzählt. Nicht besonders gut. Aber doch interessan­t. Weil sie sich hier eigentlich ein dunkles Märchen von der Seele schreibt und keine Lebensgesc­hichte liefert.

» Patti Smith: Hingabe Übersetzt von Brigitte Jakobeit, Kiepenheue­r & Witsch 144 S., 18 ¤

 ?? Foto: Bernardo Moncada, dpa ??
Foto: Bernardo Moncada, dpa

Newspapers in German

Newspapers from Germany