Mindelheimer Zeitung

Wilder Sex in Berlin, heile Welt in Schwaben

Literatur Was hat Feminismus mit Pornografi­e zu tun? Klar scheint jedenfalls: Das Gegenbild ist unsere Region

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Ist es ein Akt der Befreiung, tabulos, ja pornografi­sch und schmutzig über Sex zu schreiben? War es das damals, als es gegen gesellscha­ftliche Widerständ­e und moralische Empörung der Marquis de Sade oder Henry Miller taten? Und ist es das jetzt, im Zeichen des Feminismus, wenn es in auffallend zunehmende­r Frequenz Frauen schreiben? Und was hat das mit Rain am Lech und Dillingen an der Donau zu tun?

Was jedenfalls vor Jahren mit der Französin Virginie Despentes und hierzuland­e mit Charlotte Roche begann, hat inzwischen Konjunktur mit Büchern wie Corinna T. Sievers „Vor der Flut“oder dem aktuell stark diskutiert­en „M.“vom Autorinnen­duo Marlene Stark und Anna Gien. Denn gerade Letzteres ist ein krasses Buch, neben dem etwa E. L. James’ Weltbestse­ller „Fifty Shades of Grey“als das verklärte Märchen erscheint, das es ja im Kern auch ist. Eine Litanei aus ungefähr 250 Frauenvorn­amen steht am Beginn von „M.“, dann geht es mit der durchweg so abgekürzte­n Titelfigur auf Tour: zwischen Events als Künstlerin und DJane in immer neue SexAbenteu­er in immer neuen Konstellat­ionen. Es ist Berlin-Neukölln, eine hippe Szene, die mit ihrer Hingabe an Schmutz, Fetisch und Rollenspie­le völlig enthemmt wirkt – aber dabei alles andere als befreit und glücklich.

Und es wirkt über das Buch hinaus wie ein Diktum über unsere Zeit, wenn die Autorinnen Marlene Stark und Anna Gien über ihre „M.“sagen: „Die Selbstermä­chtigung läuft ins Leere.“Zu ihrem Schreiben und der Komplexitä­t der Debatte über Geschlecht­erverhältn­isse gehört dann aber gerade, dass sie sich in ihren Beschreibu­ngen vor allem an männlichen Autoren wie eben Sade, Miller und Roth orientiert haben – es beschreibt also vielleicht eher den Tod der Lust in einer falsch verstanden­en Befreiung.

Umso aufschluss­reicher ist darum das Gegenbild, das die beiden in Bayern geborenen Autorinnen wählen. M. nämlich fährt zu Weihnachte­n nach Hause zu ihren Eltern nach Rain am Lech, auch die in Dillingen an der Donau lebende Schwester mit ihren Kindern ist da. Und mit Neukölln und Bayerisch-Schwaben scheinen zwei Kulturen, zwei Welten aufeinande­rzutreffen, von denen die eine am fatalen Ende eines Modernisie­rungsschub­s angekommen ist, der in der anderen noch gar nicht richtig begonnen hat. Aber nein, hier geht es eben auch nicht um eine noch rückständi­ge und vermeintli­ch zu bewahrende und eine vielleicht fortschrit­tliche, aber verkommene Seite des Lebens. Denn den „normalen“Weg ihrer Eltern „auf einer statisch einwandfre­ien Betonbrück­e“zu gehen, war für M. nie möglich – inzwischen hat sie immerhin auch gelernt, deshalb nicht auf sie herabzuseh­en. Sie stand beim Versuch, „denselben blöden Fluss zu überqueren“, von früher Jugend an auf „einer wackeligen, selbst gestrickte­n Hängebrück­e“.

So gesehen: ein humanistis­cher Porno. Es geht nicht um das Urteil über Lebensmode­lle, sondern um Mitgefühl für den Einzelnen.

Das Autorinnen­duo Marlene Stark (links) und Anna Gien.

» Anna Gien und Marlene Stark: M. Matthes & Seitz, 248 S., 20 ¤

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Foto: Julien Menand

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