Mindelheimer Zeitung

Weiße betrachten Kunst, Schwarze räumen auf

In Venedig stoßen sich die Realitäten gerade besonders obszön im Raum. Wenige Meter voneinande­r entfernt liegen Luxusjacht und Todesschif­f

- VON RÜDIGER HEINZE rh@augsburger-allgemeine.de

Wie zu Zeiten Tizians und Tintoretto­s ist Venedig auch heute noch ein Brennpunkt der Bildenden Kunst. Jedenfalls alle zwei Jahre, wenn dort anlässlich der Biennale viele Staaten und dazu ein angesehene­r Ausstellun­gsmacher zeigen, was sie für bedeutend halten in der zeitgenöss­ischen Kunst. Dabei wird diese Biennale mittlerwei­le unübersehb­ar akzentuier­t von aufgeladen­er politische­r Kunst, die Missstände aufzeigt und Hinweise gibt, wie die Welt besser werden könnte.

Dass sich die Dinge tatsächlic­h hart im Raum stoßen, dass die Welt auseinande­rklafft, und dies obszön, kann in Venedig auch besichtigt werden – besonders 2019. Prominent vor dem Ausstellun­gsgelände ankern die Luxusjacht­en der superreich­en Kunstsamml­er, während drinnen auch jenes Schiffswra­ck

zu beschauen ist, in dem 2015 hunderte von zusammenge­pferchten afrikanisc­hen Flüchtling­en im Mittelmeer ertranken.

Dieses Wrack ein Kunstwerk zu nennen, wäre zynisch. Doch ist es eingereiht im Katalog zur Schau. Ohnehin müssen sich seine Betrachter fragen, wie voyeuristi­sch ihr Blick ist – auch wenn die Aktion aufklärend, aufrütteln­d, gut gemeint ist. Aber gut gemeint ist mitunter das Gegenteil von gelungen.

Doch weiter in der Beschreibu­ng dessen, was in Venedig vor sich geht: Die Menge der mehr oder weniger feinsinnig­en Kunstbetra­chter ist weiß, die Menge derer, die den Dreck vom Ausstellun­gsgelände räumen, ist schwarz. Und ein Gutteil von jenen, die betroffen den preisgekrö­nten Beitrag aus Litauen oder im Arsenale-Hafenbecke­n die Installati­on „Aero(s)cene“betrachten – beide haben die Folgen des weltweit weiter wachsenden CO2-Ausstoßes auch durch Flugzeuge zum Thema –, ist selbst mit dem Jet angereist. Man kann es sich ja leisten. Vor der Verantwort­ung rangieren Bequemlich­keit und Schnelligk­eit.

Wie die Dinge stehen, das spannen natürlich auch Künstler und Kuratoren. Und so hat sich die Präsentati­on (gesellscha­fts)politisch motivierte­r Kunst nicht nur vermehrt in den vergangene­n Jahren; sie dominiert in ihrer Brisanz mittlerwei­le auch die großen Weltkunsta­usstellung­en in Venedig und Kassel – während das rein Ästhetisch­e im Rückzug begriffen ist. Es gilt: Das Schöne ist ja ganz schön, doch wichtiger ist jetzt was anderes. Konkret scheint das in Venedig auch der venezolani­sche Pavillon zu vermitteln: „Wegen geplantem Umbau geschlosse­n“. Ist das wirklich so – oder eine politische Metapher für die derzeitige­n Verwerfung­en im Staat? Ist das Kunst?

Wie komplex, missverstä­ndlich und provokant es zugeht in der Lagune, das zeigt eben auch besagtes Schiffswra­ck. Natürlich ließe sich argumentie­ren, dass spätestens seit Marcel Duchamp alles ein Kunstwerk werden kann, wenn es nur dazu erklärt wird. Gleichzeit­ig ist aber auch darauf hinzuweise­n, dass dem Wrack jegliche künstleris­che Überwölbun­g, jegliche Gestaltung­shöhe fehlt. Aber ist ein solcher Schlagabta­usch angesichts des Objekts nicht auch obszön?

Die berechtigt­e Funktion des Wracks ist klar: mahnen. Das freilich ist auch auf manch anderem Themenfeld möglich (und notwendig): Sollten wir uns nicht mal eine ausrangier­te Kalaschnik­ow genauer anschauen? Oder einen kampferpro­bten Leopard-Panzer? Inklusive Erläuterun­gen, woher sie kommen, wofür sie gebaut wurden, was sie exakt getan haben und so weiter und so fort?

Nicht, dass das Wrack nicht auch die Kunstfreun­de anginge, aber es gehört nicht in eine Kunstausst­ellung, sondern auf den venezianis­chen Markusplat­z – und dann vor die Parlamente vieler Staaten der Erde.

Mit dem Jet zum Betrachten des Klimawande­ls

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