Eltern machen Schule
Bildung Mama und Papa können ihre Kinder in eine staatliche Schule schicken. Oder in eine private. Und wenn ihnen keine zusagt? Dann gründen sie eben ihre eigene. Jeder darf das. Eine Geschichte über Idealisten, die Tücken einer Zimmerdecke und das Warten
Essfeld Seit drei Jahren hat Sandra Leist dieses Bild im Kopf: Kinder sitzen auf dem Teppichboden und malen. Andere ordnen bunte Buchstaben, damit diese Wörter ergeben. „Und mittendrin sehe ich mich“, sagt die Erzieherin aus Essfeld, einem 690-Einwohner-Dorf bei Würzburg. Im Herbst soll das Bild Wirklichkeit werden. Dann will Sandra Leist ihre eigene Schule eröffnen – die Bildungsschmiede Essfeld, konzipiert als Grund- und Mittelschule für insgesamt 40 Schüler.
Jeder in Deutschland hat das Recht, eine Schule zu gründen. Nur wissen die wenigsten davon. Auch Sandra Leist hätte bis vor drei Jahren „nie gedacht, dass das geht“. Dabei steht es sogar im Grundgesetz, Artikel 7, Paragraf 4: „Das Recht zur Errichtung von privaten Schulen wird gewährleistet.“Eins der kuriosesten Bürgerrechte, versteckt in einem staubtrockenen Satz. Voraussetzung ist, dass die Privatschüler am Ende genauso viel können wie die im staatlichen System. Auch die Lehrer müssen in ihrer Ausbildung denen an öffentlichen Schulen ebenbürtig sein.
Klingt ja gar nicht so wild. Sandra Leist und ihre Mitstreiter haben in den vergangenen drei Jahren allerdings ganz andere Erfahrungen gemacht. Zwischendurch waren sie fast am Ende ihrer Kräfte.
Kein Wunder, dass die 35-Jährige jetzt so strahlt, wenn sie die Seitentür zum Erdgeschoss „ihres“Schulbaus aufschiebt. Das Vorderhaus ist aus grob geschlagenem grauen Stein, angedockt ein zweistöckiger Flachbau. Die Schule liegt gleich an der Straße. Weil aber so wenige Autos vorbeifahren, hätten wohl nur die besorgtesten Helikopter-Eltern Angst, ihre Kinder allein auf den Schulweg zu schicken.
Früher war das Haus Teil eines Betriebs für Verkauf und Reparatur von Gartenkleingeräten. Fast ein halbes Jahr haben es Leist und ihre Mitstreiter umgebaut. „Alles, was irgendwie ging, haben wir selbst gemacht.“Wir, das sind die Mitglieder des Vereins Insel der Bildung, den Sandra Leist zusammen mit Silke Sponsel, einer dreifachen Mutter aus dem Ort, als Träger für die Schule gegründet hat. Heute hat er 15 Mitglieder. Die Firma gehört Sponsels Vater, deshalb muss der Verein auch erst mal keine Miete zahlen. Insgesamt haben sie 50000 Euro in die Renovierung gesteckt. „Wir haben Privatkredite aufgenommen, Sponsorengelder gesammelt und Eigenkapital investiert.“Heute ist alles so, wie die bayerische Schulbauordnung es will – selbst die Schultoilette, deren Renovierung die meisten Nerven gekostet hat.
Was noch fehlt, sind die Kinder. Ob sie jemals kommen, weiß nicht einmal Sandra Leist. Denn die Regierung von Unterfranken muss den Schulbetrieb erst noch genehmigen. Das erlösende Schreiben lässt seit Monaten auf sich warten.
„Es kann sein, dass wir erst einen Tag vor Beginn des Schuljahres erfahren, ob wir starten dürfen oder nicht“, erzählt die Frau mit dem rot gefärbten Kurzhaarschnitt und den Lachgrübchen. Sie schiebt die Tür zur Cafeteria gleich neben dem Seiteneingang auf. Das Laminat ist ganz neu und so riecht es auch. Die 35-Jährige lässt sich auf einen der zusammengewürfelten Stühle fallen und schenkt Wasser ein. Das Haus ist so still, dass man die Kohlensäure im Glas hören kann. Der Frau ist bewusst, wie verrückt das klingt: eine Schule einzurichten, ohne zu wissen, ob jemals jemand darin lernen wird. Oft genug hat sie gehässige Stimmen gehört, die sagten: „Kann denn jetzt hier jeder Schule machen?“Sie weiß vom HippieImage des naiven Weltverbesserers, das Schulreformern oft anhaftet.
Fakt ist aber, dass so viele Eltern wie nie der Regelschule den Rücken kehren. Auf dem Papier sind 23 von 40 Plätzen in der Bildungsschmiede schon vorreserviert. Ein Platz kostet im Monat 210 Euro. Nach Angaben des Verbands der Privatschulen in Bayern (VBP) besucht jeder siebte Schüler eine freie Schule. Die Gründe sind vielfältig: die Überzeugung von einer reformpädagogischen Ausrichtung, der eigene Glaube oder die Annahme, das Kind bekomme eine individuellere Förderung als im staatlichen System.
Mittlerweile gibt es mehr als 1300 Privatschulen in Bayern. Jedes Jahr kommen 15 bis 20 hinzu, schätzt VBP-Präsident Bernd Dietrich. Regelmäßig suchen Menschen bei ihm Beratung, die ihre eigene Schule gründen wollen. Fünf bis zehn Anfragen registriert er im Jahr. „Das können Firmen sein, die eigenen Nachwuchs ausbilden möchten. Lehrer, die etwas anders machen wollen als im staatlichen System oder Kindergarten-Träger, die auch ein Schulangebot planen.“Die allermeisten kämen über die Erstberatung nicht hinaus. „Sie treffen auf eine völlig überladene Bürokratie.“Dass Eltern eine Schule gründen, sei ohnehin eher die Ausnahme.
Für Sandra Leist war es die einzig logische Konsequenz. Sie als Erzieherin sehe „jeden Tag, wie schon der Kindergarten verschult wird“. Frühstück um acht, Englischkurse, Vorschule: „Man muss den ganzen Tag Programm machen. Die Kinder funktionieren nur noch.“Und sie hat sich an ihre eigene, heute 16-jährige Tochter erinnert. „Ich musste sie ständig motivieren, etwas für die Schule zu tun, dauernd mit ihr nacharbeiten. Für Kinder, die einen eigenen Lernrhythmus haben, ist an staatlichen Schulen meist keine Zeit.“Und wer sein Kind schon mal an der Montessori-Schule anmelden wollte, weiß, wie begehrt die Plätze dort sind.
Also hat sie mit den anderen Idealisten nachgelesen, wie so ein Kindergehirn lernt, aus pädagogischen Grundlagenwerken das ihrer Meinung nach Beste herausgepickt und bei der Regierung von Unterfranken ein Konzept eingereicht. 76 Seiten ist der Antrag dick. Der Antrag für eine Schule, die ganz anders funktionieren soll als die des Staats. Anders, nicht besser – das will die gebürtige Sächsin betont wissen. „Es gibt genug junge Menschen, die im Regelsystem gut klarkommen.“
Die Bildungsschmiede setzt auf freies Lernen. Kein Stundenplan, keine Noten und Prüfungen. Nur die natürliche Neugier der Kinder. Leitmodell ist die intrinsische Motivation – die Annahme, dass Kinder aus sich selbst heraus lernen wollen, wenn sie etwas interessiert. Einfach, weil es Spaß macht oder sie eine Herausforderung suchen. „Wenn ein Schüler sagt, er will ein Vogelhaus bauen, dann überlegen wir, wie man Elemente des bayerischen Lehrplans darin einbauen kann.“Genauso beim Skateboarden: „Da kann man das Gefälle einer Straße berechnen oder wie lange man mit einer bestimmten Geschwindigkeit für eine bestimmte Strecke braucht.“
Eine Schule mit nahezu identischem Konzept soll in Großaitingen im Landkreis Augsburg entstehen – mit dem Unterschied, dass dort noch grüne Wiese ist, wo bald ein Schulhaus stehen soll. „Luana“soll die Schule heißen, es ist das hawaiianische Wort für „glücklich“. Einer der Köpfe hinter der Initiative ist der Augsburger Karl Geller, 25 und Vater einer kleinen Tochter. „Unser Antrag ist abgegeben. Im Kultusministerium hat man uns signalisiert, dass Ende Juli feststehen soll, ob wir eine Genehmigung bekommen“, sagt Geller. Auch die Baugenehmigung des Gemeinderats fehlt noch. „Wenn das Konzept steht und genehmigt ist, ist es auch leichter, ein Gebäude zu bekommen.“
Geller studiert an der Universität Augsburg Lehramt – „weil ich es genial finde, Kindern etwas beizubringen“. Durch das Studium und Praktika ist er zu dem Schluss gekommen, dass „die Pädagogik für mich nicht ideal ist“. Die einzige Demokratie, die es an Bayerns Schulen gebe, sei die, dass Schüler einen Klassensprecher wählen dürfen. Geller will größtmögliche Mitbestimmung: „Wir machen alle Unterrichtsangebote, die im Lehrplan gefordert werden und noch einiges darüber hinaus.“Aber die Kinder könnten eben selbst entscheiden, welche sie annehmen möchten. Das impliziere auch die Freiheit, keinen Kurs zu wählen. „Sonst ist es keine echte Wahl.“Geht es nach der Luana-Gruppe, sollen die Schüler auch mitbestimmen, ob ein Lehrer eingestellt oder gekündigt wird.
So weit wollen die fränkischen Schulgründer nicht gehen. „Aber wir wollen zum Beispiel mit den Schülern diskutieren, wie man das Geld ausgibt und ob wir ein Schulfahrrad brauchen.“Sandra Leist stößt die Tür zum Herz ihres Schulhauses auf. Wo früher der Verkaufsraum war, ist jetzt die „Bildungswerkstatt“. Wo einst Rasenmäher den Besitzer wechselten, soll bald Sandra Leists Vision Wirklichkeit werden. Der Raum ist groß, hell und frisch gestrichen. In der Ecke steht ein Strandkorb, auf den Tischen liegen die bunten Buchstaben und ein Spiel zum Englischlernen. „Alles zu seiner Zeit“, steht auf einer Uhr an der Wand. „Hier findet unser Morgenkreis statt“, erklärt die Schulgründerin. „In den Ecken kann jeder für sich arbeiten, sich auf den Boden setzen, an den Stühlen hochklettern.“
Für die Schüler sind zwei ausgebildete Lehrer nötig. Einer wird auch Schulleiter sein. „Wir hatten mehr als 20 Bewerber für zwei Stellen.“Leist selbst möchte die Schüler als Lernbegleiterin unterstützen. Sie schaut sich in den Räumen immer noch so staunend um wie ein Kind, das neu ins Klassenzimmer kommt. Trotz der klaren Überzeugung war sie manchmal kurz davor, hinzuwerfen. Immer wieder verabschiedeten sich Eltern aus der Initiative, weil alles so schleppend voranging. Am absurdesten fand sie die Diskussion über die Deckenhöhe. Alles war fertig gewesen, vom normalen Bauamt abgesegnet. Bis das Schulbauamt kam. Klassenzimmer brauchen eine Deckenhöhe von drei Metern. Die Räume in der Schule sind niedriger. Der Verein musste nachrechnen und beweisen, dass er auch mit niedrigen Decken den Betrieb sicherstellen kann. Der ist nämlich nur erlaubt, wenn für jedes Kind sechs Kubikmeter Luft und zwei Quadratmeter Fläche zur Verfügung stehen. „Aber ich verstehe die Behörden, sie haben eine unglaubliche Verantwortung.“
Bernd Dietrich vom Privatschulverband versteht die Behörden dagegen nicht. „Die Anforderungen sind aus unserer Sicht zu hoch.“Behörden setzten bei der Bewertung eines Konzepts überwiegend die Maßstäbe der staatlichen Schulen an. „Oft fehlt das Verständnis für andere pädagogische Ansätze.“Klein anfangen, vielleicht mit nur einem Lernraum? Geht auch nicht. „Schulgründer müssen von Anfang an Räume für den Gesamtausbau ihres Hauses vorhalten. Man muss sozusagen zu Beginn schon wissen, wie die Schule in 20 Jahren aussehen soll. Da braucht es hellseherische Fähigkeiten. In einer Firma würde man das nie so machen.“
Und dann sei da noch ein grundsätzliches Problem: Private Schulen machen den staatlichen Konkurrenz. Gleichzeitig entscheidet eben dieser Staat über Schulgenehmigungen. „Das ist, als würde eine Mannschaft Fußball spielen und immer auch den Schiedsrichter stellen.“
Sandra Leist hat akzeptiert, dass sie den Behörden ausgeliefert ist. Jetzt heißt es warten. Zu tun gibt es noch genügend. Gerade packt sie Bücherkisten für die Bibliothek aus. Mehrere Bände des Duden-„Basiswissen Schule“stehen schon im Regal, daneben ein Heinrich-HeineGedichtband. Wie das gesammelte Werk Perry Rhodans ins Regal gekommen ist, weiß sie selbst nicht. Wahrscheinlich eine der Spenden, ohne die in Essfeld gar nichts ginge.
Karl Geller in Augsburg muss ebenso warten. „Wir würden uns auch von einem negativen Bescheid der Regierung von Schwaben nicht von unserem Ziel abbringen lassen“, sagt er. „Bei unseren Treffen mit anderen Schulgründern sehe ich es immer wieder: Da ist eine Bewegung entstanden, die lässt sich nicht mehr stoppen.“
Die Toilette hat die meisten Nerven gekostet
Man muss jetzt schon 20 Jahre vorausdenken