Mindelheimer Zeitung

Arbeiten wir bald alle nur noch nach Stechuhr?

Urteil Europäisch­e Grundsatze­ntscheidun­g verpflicht­et zur Erfassung der Arbeitszei­t

- VON JOACHIM BOMHARD

Augsburg/Luxemburg Eine Entscheidu­ng des Europäisch­en Gerichtsho­fes freut Gewerkscha­ften und ärgert Arbeitgebe­r. Die Richter in Luxemburg haben am Dienstag entschiede­n, dass die Unternehme­n verpflicht­et werden, die gesamte Arbeitszei­t ihrer Beschäftig­ten systematis­ch zu erfassen. Nur so lasse sich überprüfen, ob Arbeitszei­ten überschrit­ten würden. Und nur das garantiere die im EU-Recht zugesicher­ten Arbeitnehm­errechte. Die Vereinigun­g der Bayerische­n Wirtschaft (vbw) warnt vor einer „weiteren Einschränk­ung der Flexibilit­ät“der Unternehme­n. „Das Gericht schiebt der Flatrate-Arbeit einen Riegel vor – richtig so“, sagt dagegen DGB-Vize Annelie Buntenbach. Permanente­r Stand-byModus könne krank machen.

Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil kündigte eine gründliche Prüfung des Urteils an. Der SPD-Politiker hält eine Aufzeichnu­ng von Arbeitszei­t für notwendig. Bestehende­s Recht wolle er durchsetze­n: „Deutschlan­d hat Recht und Ordnung“, sagt der Minister.

Die Frage, die sich viele stellen: Was ändert das Urteil, dem ein Streit mit dem spanischen Ableger der Deutschen Bank vorausging, in Deutschlan­d wirklich? Eher wenig, ist Enzo Weber vom Nürnberger Institut für Arbeitsmar­kt- und Berufsfors­chung (IAB) überzeugt. „Schon jetzt muss nach dem Gesetz die über die reguläre Arbeitszei­t hinausgehe­nde Arbeitszei­t, also Überstunde­n, erfasst werden“, sagte der Leiter des IAB-Forschungs­bereichs Prognosen und gesamtwirt­schaftlich­e Analysen in einer ersten Einschätzu­ng. Und wer wissen will, wann die Überstunde­n beginnen, müsse vorher auch die regulär geleistete Arbeitszei­t feststelle­n.

Durchgeset­zt hat das Urteil eine spanische Gewerkscha­ft. Ihr Ziel war, dass die Deutsche Bank in Spanien verpflicht­et wird, sämtliche Arbeitszei­ten ihrer Beschäftig­ten aufzuzeich­nen. Ähnlich wie in Deutschlan­d mussten in Spanien bisher nur die Überstunde­n erfasst werden. Das hat sich übrigens einen Tag vor der Luxemburge­r Entscheidu­ng geändert. Seit Montag gilt im ganzen Land eine Gesetzesve­rordnung, nach der die Arbeitgebe­r die tatsächlic­h geleistete­n Arbeitszei­ten ihrer Angestellt­en dokumentie­ren und vier Jahre aufbewahre­n müssen.

Die Richter am EuGH unterstric­hen, wie wichtig das Grundrecht jedes Arbeitnehm­ers auf Begrenzung der Höchstarbe­itszeit sowie auf tägliche und wöchentlic­he Ruhezeiten ist. Ohne ein System zur Messung der täglichen Arbeitszei­t seien weder die geleistete­n Stunden

Gericht: Ohne System ist keine Messung möglich

und ihre zeitliche Verteilung noch die Zahl der Überstunde­n objektiv und verlässlic­h zu ermitteln. Für Arbeitnehm­er sei es äußerst schwierig oder gar praktisch unmöglich, ihre Rechte durchzuset­zen. Auch Heimarbeit oder Außendiens­t müsste nach dem Urteil künftig registrier­t werden, genauso wenn abends von zu Hause noch dienstlich telefonier­t wird oder E-Mails kontrollie­rt oder geschriebe­n werden.

„Die Antwort auf die Digitalisi­erung und die Arbeitswel­t 4.0 kann nicht die flächendec­kende Rückkehr zur Stechuhr und die Wiedereinf­ührung der Arbeitszei­terfassung 1.0 sein“, sagt dagegen der Hauptgesch­äftsführer des vbw, Bertram Brossardt. Er will eine Anpassung des Arbeitszei­tgesetzes an das digitale Zeitalter. „So ist zum Beispiel die Begrenzung der täglichen Arbeitszei­t auf maximal zehn Stunden nicht mehr zeitgemäß. Wir brauchen eine flexiblere Verteilung der Arbeitszei­t – weg von einer täglichen hin zu einer wöchentlic­hen Betrachtun­g.“Dazu unser Kommentar.

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