Arbeiten wir bald alle nur noch nach Stechuhr?
Urteil Europäische Grundsatzentscheidung verpflichtet zur Erfassung der Arbeitszeit
Augsburg/Luxemburg Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes freut Gewerkschaften und ärgert Arbeitgeber. Die Richter in Luxemburg haben am Dienstag entschieden, dass die Unternehmen verpflichtet werden, die gesamte Arbeitszeit ihrer Beschäftigten systematisch zu erfassen. Nur so lasse sich überprüfen, ob Arbeitszeiten überschritten würden. Und nur das garantiere die im EU-Recht zugesicherten Arbeitnehmerrechte. Die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) warnt vor einer „weiteren Einschränkung der Flexibilität“der Unternehmen. „Das Gericht schiebt der Flatrate-Arbeit einen Riegel vor – richtig so“, sagt dagegen DGB-Vize Annelie Buntenbach. Permanenter Stand-byModus könne krank machen.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil kündigte eine gründliche Prüfung des Urteils an. Der SPD-Politiker hält eine Aufzeichnung von Arbeitszeit für notwendig. Bestehendes Recht wolle er durchsetzen: „Deutschland hat Recht und Ordnung“, sagt der Minister.
Die Frage, die sich viele stellen: Was ändert das Urteil, dem ein Streit mit dem spanischen Ableger der Deutschen Bank vorausging, in Deutschland wirklich? Eher wenig, ist Enzo Weber vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) überzeugt. „Schon jetzt muss nach dem Gesetz die über die reguläre Arbeitszeit hinausgehende Arbeitszeit, also Überstunden, erfasst werden“, sagte der Leiter des IAB-Forschungsbereichs Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen in einer ersten Einschätzung. Und wer wissen will, wann die Überstunden beginnen, müsse vorher auch die regulär geleistete Arbeitszeit feststellen.
Durchgesetzt hat das Urteil eine spanische Gewerkschaft. Ihr Ziel war, dass die Deutsche Bank in Spanien verpflichtet wird, sämtliche Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten aufzuzeichnen. Ähnlich wie in Deutschland mussten in Spanien bisher nur die Überstunden erfasst werden. Das hat sich übrigens einen Tag vor der Luxemburger Entscheidung geändert. Seit Montag gilt im ganzen Land eine Gesetzesverordnung, nach der die Arbeitgeber die tatsächlich geleisteten Arbeitszeiten ihrer Angestellten dokumentieren und vier Jahre aufbewahren müssen.
Die Richter am EuGH unterstrichen, wie wichtig das Grundrecht jedes Arbeitnehmers auf Begrenzung der Höchstarbeitszeit sowie auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten ist. Ohne ein System zur Messung der täglichen Arbeitszeit seien weder die geleisteten Stunden
Gericht: Ohne System ist keine Messung möglich
und ihre zeitliche Verteilung noch die Zahl der Überstunden objektiv und verlässlich zu ermitteln. Für Arbeitnehmer sei es äußerst schwierig oder gar praktisch unmöglich, ihre Rechte durchzusetzen. Auch Heimarbeit oder Außendienst müsste nach dem Urteil künftig registriert werden, genauso wenn abends von zu Hause noch dienstlich telefoniert wird oder E-Mails kontrolliert oder geschrieben werden.
„Die Antwort auf die Digitalisierung und die Arbeitswelt 4.0 kann nicht die flächendeckende Rückkehr zur Stechuhr und die Wiedereinführung der Arbeitszeiterfassung 1.0 sein“, sagt dagegen der Hauptgeschäftsführer des vbw, Bertram Brossardt. Er will eine Anpassung des Arbeitszeitgesetzes an das digitale Zeitalter. „So ist zum Beispiel die Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf maximal zehn Stunden nicht mehr zeitgemäß. Wir brauchen eine flexiblere Verteilung der Arbeitszeit – weg von einer täglichen hin zu einer wöchentlichen Betrachtung.“Dazu unser Kommentar.