Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (123)
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat.
Als sie sich aber nach dem Mittagessen mit ihrem Gast in den Salon begeben hatte, ging doch die Zunge mit ihr durch. Einerseits erschien es ihr nicht anständig, das, was sie wußte, Sophia zu verhehlen, andererseits war sie ein bißchen geschwellt von ihrem Wissen und ungeduldig, es auszukramen, gleichsam zum Beweis ihrer Umsicht und Tüchtigkeit. Sie hatte nämlich auf eigene Faust den Doktor Camill Raff aufgesucht; kurz vor dessen Übersiedlung in den Ort seiner Versetzung hatte sie ein ausführliches Gespräch über Etzel mit ihm gehabt; die Unterhaltung hatte ihr wichtige Aufschlüsse verschafft, und wenn sie sie mit dem kombinierte, was sie selbst mit dem Jungen erlebt hatte, vor allem mit seinem letzten Besuch und der stürmischen Geldforderung, fiel schon einiges Licht auf den Weg, den er eingeschlagen haben mochte, obschon dieser Weg darum nicht minder beängstigend und ungewöhnlich erschien. Hätte er
doch wenigstens ein Lebenszeichen gegeben, man hätte ihn nicht verraten, man hätte sein Geheimnis geachtet und gehütet, bestimmt hätte man es getan, wenn sein Herz dran hing, aber so… einfach verduften, die Leute zu Hause sich in Gram und Sorge verzehren lassen… Die Generalin sagte rücksichtsvoll „die Leute“, sie meinte aber sich allein. Sophia hatte schweigend und höchst aufmerksam zugehört. Sie schwieg auch jetzt, als die Generalin mit ihrem Bericht zu Ende war. Nur ein Funkeln in den großen braunen Augen verriet ihren inneren Anteil. Die Generalin stutzte eine Sekunde lang: Es war dasselbe Funkeln, das bronzene Leuchten wie bei „ihm“, kein Zweifel, das hatte er von ihr, auf einmal verflüchtigte sich die alberne Eifersucht, und sie fühlte heftige Sympathie für die Frau. Sophias aufatmender Gedanke war: So also ist er. Sie war niemals das gewesen, was man eine leidenschaftliche Mutter nennt, d. h. sie hatte ihre Liebe nie zur Schau getragen, und zu der Zeit, als sie noch bei ihm war, hatte sie den größten Wert auf einen leichten Umgangston gelegt. Stets bereit, mit ihm zu lachen und zu scherzen, hatte sie es sorgsam vermieden, ihn mit jener selbstsüchtigen Zärtlichkeit zu belasten, die ihn zu früh in die wirrselige Welt der Gefühle verstrickt hätte. Vielleicht hatte Herr von Andergast nur auf seine Weise (aber was war das für eine Weise, eine blutlose, instinktlose, verstandeskalte) zu vollenden versucht, was sie aus der Fülle einer reichen Natur heraus begonnen; es ließ sich denken, daß er sich gerade hierin in einer geheimnisvollen Abhängigkeit befand, die er freilich weder vor sich noch vor irgendeinem Menschen je zugegeben hätte; er hatte ja auch nichts vollendet, wo die Erleuchtung des Herzens fehlt, bleiben pädagogische Experimente übrig, und die waren jämmerlich fehlgeschlagen. Als Sophia sich von ihrem Knaben trennen gemußt, hatte niemand eine Klage von ihr gehört, um wieviel weniger einen Verzweiflungsausbruch, man hatte sogar öffentlich darüber gesprochen und von ihr gesagt, daß sie keiner tieferen Empfindung fähig sei. Nun, mit ihr war es eigen, sie konnte mit einem gehegten Bild in der Seele existieren und so, als ob es ein Wesen aus Fleisch und Blut wäre. Jedenfalls hatte sie bis zum heutigen Tag das Gefühl tätiger Verbundenheit, in all den Jahren war ihr zumute gewesen, als erziehe sie den Knaben aus der Ferne zu ihrem Bundesgenossen, wundersame Kräfte spielten da mit, die mit vorgesetzter Absicht nichts gemein hatten. Deshalb das erlöste: So also ist er. Deshalb das Etzelsche Funkeln in den Augen.
Gegen Abend ging sie aus und fuhr in die Stadt. Langsam durch die Gassen wandernd, litt sie unter dem beständigen Zwiespalt zwischen Heimatlichem und Feindlichem, die eine Erinnerung hell und melodisch, daneben die andere trüb und quälend. Die neubemalten, alten Häuser im Weichbild berührten sie wie etwas Lügnerisches, doch vor dem Römer blieb sie stehen und sah an der Fassade empor, wie man den Blick in ein ehrwürdiges Antlitz vertieft. Immer zu Boden schauend, als verfolge sie eine Spur, gelangte sie zum Kettenhofweg und vor das Andergastsche Haus. Ihre Augen irrten über die Fenster des zweiten Stocks, alle waren dunkel. Diese Dunkelheit gab Abwesenheit kund, Abwesenheit der zwei Menschen, die ihr Sinn so weit auseinanderhielt wie das Grauen und die Seligkeit und die sie so nah zusammenzudenken hatte, wie man Vater und Sohn zusammendenken muß. Könnte sie jetzt hinaufgehen und dem Mann gegenübertreten, den zur Rechenschaft zu ziehen sie gekommen ist, was für Worte würde sie sagen, was für ein Gericht würde sie halten, wenn es doch möglich wäre, jetzt, jetzt, in diesem erfüllten Augenblick, wo sie ihr geplündertes Leben wie in einem einzigen Atemzug begreift, wie würde er da vor ihr stehen, wenn sie ihm ins Gesicht schrie: Wo ist mein Kind? Gib mir meinen Sohn wieder? Aber dieser pathetische Augenblick ist immer nur ein Phantasieprodukt. Er zerstäubt an der Wirklichkeit. Auf der andern Seite nämlich ist ebenfalls ein Mensch, das Selbstverständlichste von der Welt, solange man ihn denkt, das Unerwartetste, Verwirrendste und Lähmendste, wenn er erscheint.
Doch in dem „erfüllten Augenblick“ist alles Erlebnis von zehn Jahren verdichtet wie in einem Wassertropfen das Meer. Wie sie von Hotel zu Hotel geirrt ist, von Stadt zu Stadt. Sie hatte keine Menschen, keine Zuflucht, keinen Zuspruch, kein Heim, keine Hilfe. Stumm und kalt hatte sie die Weisungen des Mannes da oben entgegengenommen, der Vertrag war unterschrieben, ihre Zukunft war sein Diktat, sie besaß keine Rechte mehr, Freiheit nur, soviel er ihr zugestand, Vermögen nur, was vom elterlichen Erbe übrig war. Sie war krank gewesen, immer wieder krank und hatte nie einen Arzt gerufen oder aufgesucht. Sie hatte, im Kriege noch, in der umflammten und aufgewühlten Schweiz, in billigen Pensionen unter banalen Menschen gelebt und es fertiggebracht, nicht aufzufallen und nicht ihr unliebsames Interesse zu erregen. Sie hatte botanische und mineralogische Studien getrieben, sich mit kunstreichen Stickereien die Augen verdorben, war viel gewandert, oft über ihre physischen Kräfte, hatte sich schwer in die Einsamkeit gefunden, obwohl sie mit Menschen nicht leben konnte.
Bei den mannigfachsten geistigen Interessen und einem ungebrochenen Lebensverlangen war ihr Herz gleichsam entleert, das Dasein, das sie führte, war glatterdings freudelos, sie konnte lachen und sich amüsieren, aber nur in gleichgültiger Gesellschaft, sobald irgend jemand, Mann oder Weib, sich zu vertraulicher Annäherung anschickte, veränderte sich ihr Wesen und hob unmerklich die Bindung auf.