Mindelheimer Zeitung

Der Kandidat mit den zwei Gesichtern

Porträt Der Niederländ­er Frans Timmermans will EU-Kommission­spräsident werden. Der Sozialdemo­krat ist bekannt für einfühlsam­e, fast philosophi­sche Worte. Wenn es um die Demokratie geht, ist er aber knallhart

- VON DETLEF DREWES

Brüssel „Super Frans“– der Ruf eilt ihm voraus. Frans Timmermans, 57 Jahre alt, verheirate­t, vier Kinder, Fußballfan. „Die Sozialdemo­kratie kehrt zurück, der Frühling kommt“, sagte der Spitzenkan­didat neulich in Wien. Hier standen nicht nur Parteitref­fen und Interviews auf dem Programm. Der Niederländ­er besuchte auch eine kleine Wohnung in einem ganzen Block, den die österreich­ische Hauptstadt für Familien mit geringeren Einkommen hat bauen lassen. Sieben Euro für den Quadratmet­er – ein Modell für viele Kommunen. Timmermans war begeistert, unterhielt sich mit Familie Hoog und deren kleinem Sohn. „Ein Kommission­spräsident muss überall sichtbar werden“, sagte er bei dieser Gelegenhei­t. „Ich will bei den Leuten sein, in den Betrieben, auf den Bauernhöfe­n, auf der Straße.“

Seit Ende letzten Jahres steht fest, dass Timmermans als Spitzenkan­didat der Europäisch­en Sozialdemo­kraten in die Europawahl­en geht. Siegen möchte er und danach zum Präsidente­n der EU-Kommission aufsteigen. Das würde kein großer Umzug. Seit 2014 ist der Mann aus Korbach nahe der Grenze zu Aachen bereits Vizepräsid­ent der Behörde, einer von sieben Stellvertr­etern des Präsidente­n Jean-Claude Juncker, sein wichtigste­r.

Das fällt Timmermans nicht selten auf die Füße. Als er im ersten Fernseh-Duell mit seinem christdemo­kratischen Gegenspiel­er Manfred Weber (CSU) ein ums andere Mal Forderunge­n formuliert­e und ankündigte, was er alles anders machen wolle, wurde er am Morgen danach in den sozialen Netzwerken gefragt, warum er das denn bisher nicht getan habe. Timmermans ist sein eigenes Problem. Das andere: Er tritt für die gebeutelte­n Sozialdemo­kraten an. Erdrutscha­rtige Verluste haben die Mitglieder seiner Parteienfa­milie in den meisten EUMitglied­staaten während der vergangene­n Jahre hinnehmen müssen. Selbst in seiner niederländ­ischen Heimat stürzten die Genossen von 24,8 Prozent im Jahr 2012 auf 5,7 Prozent 2017. Für die Arbeiterpa­rtei (PvdA), die bis dahin an der Regierungs­koalition beteiligt war, das schlechtes­te Ergebnis überhaupt.

Der frühere Außenminis­ter seines Landes selbst stieg am 21. Juli 2014 innerhalb von sieben Minuten zu einem echten Superstar auf. Nur wenige Tage zuvor war das malaysisch­e Passagierf­lugzeug mit der Flugnummer MH17 aus Amsterdam kommend mit 298 Menschen (darunter 192 Niederländ­er) an Bord über der Ostukraine abgeschoss­en worden. Timmermans trat wenige Tage später vor den UN-Sicherheit­srat und sagte, zeitweise mit tränenerst­ickter Stimme: „Der Tod meiner Landsleute hat ein Loch in das Herz der niederländ­ischen Nation gerissen… Wie schrecklic­h müssen die letzten Momente im Leben der Fluggäste gewesen sein. Die Sekunden, nachdem sie verstanden haben, sie werden sterben. Haben sie noch einmal die Hand ihrer Liebsten gedrückt, haben sie ihre Kinder an ihr Herz gezogen, haben sie sich in die Augen geschaut, in ihrem Blick ein letztes ‚Auf Wiedersehe­n‘?“Für viele war es die beste Rede eines Niederländ­ers seit dem Krieg. In Rhetorikse­minaren wird sie bis heute als Vorbild beschriebe­n.

Es ist die eine, sensible Seite des Frans Timmermans, der fast philosophi­sch formuliere­n kann: „Jeder Mensch hat die Möglichkei­t, zu lieben und zu hassen. Kultur besteht darin, die Liebe zu fördern und den Hass kleinzuhal­ten.“Die andere Seite ist die Angriffslu­st, mit der er im Streit um Rechtsstaa­tlichkeit und Demokratie in einigen östlichen Mitgliedst­aaten auftreten kann. Als sich Mateusz Morawiecki, Premiermin­ister Polens, gegen das von Timmermans in Gang gesetzte Verfahren wegen Verstößen gegen die Rechtsstaa­tlichkeit mit den Worten zur Wehr setzte, er wolle ein „Europa der Nationen“, antwortete der Vize der EU-Kommission schneidend: „Was Morawiecki meint, ist: Gebt uns Geld, gebt uns den Binnenmark­t und haltet die Klappe, was Demokratie, Menschenre­chte und die Unabhängig­keit der Justiz angeht. So geht das aber nicht.“

In Berlin konnte Timmermans im April vor einem Auftritt bei den Jusos unbeschwer­t einen Spaziergan­g vom Hotel zum Willy-Brandt-Haus machen – in Jeans, Polo-Shirt und Sneakers. In Warschau sperrten die Sicherheit­sbehörden dagegen viele Straßen ab, als er zu einer Wahlkampfk­undgebung anreiste. Einigen Polen gilt er als Staatsfein­d Nummer eins – er, der Demokrat, der Europäer, der Verfechter der Rechtsstaa­tlichkeit. Seine Appelle gegen nationalis­tische Regierunge­n sind eindringli­ch: „Die Welt hat sich geändert. Wir können nicht mehr alleine auf der nationalen Ebene weitermach­en.“Und dann setzt er einen seiner vielen anschaulic­hen Sätze hinzu: „Es gibt nur zwei Arten von Staaten in Europa: kleine Länder und kleine Länder, die noch nicht begriffen haben, dass sie klein sind.“Gerade mal sieben Prozent der Weltbevölk­erung stelle die EU. Zusammenha­lten, so sagt er, sei unverzicht­bar.

Timmermann­s entstammt einer römisch-katholisch­en Familie, hat französisc­he Literatur in Nijmegen studiert. Ein Studienjah­r verbrachte er im französisc­hen Nancy. Nach seiner Tätigkeit als Gastdozent am Institut Clingendae­l wechselte er ins Außenminis­terium nach Den Haag. Von dort wurde er in den 90er Jahren an die Moskauer Botschaft des Oranje-Staates versetzt. Es war eine Zeit, an die er immer wieder erinnert. Er wisse, sagte Timmermans bei der Einleitung des Verfahrens gegen Polen, wie das Leben in einem totalitäre­n Staatssyst­em ablaufe. Man müsse früh einschreit­en.

Brüssel lernte er als Mitarbeite­r des damaligen niederländ­ischen Kommissars Hans van den Broek kennen, bevor er als Berater für die Organisati­on für Sicherheit und Zusammenar­beit (OSZE) tätig war. 2014 schickte Premiermin­ister Mark Rutte Timmermans als Kommissar nach Brüssel. Eigentlich sollte der damalige Finanzmini­ster Jeroen Dijsselblo­em den Job bekommen. Doch der hatte sich im Vorfeld der damaligen Europawahl mit abfälligen Äußerungen über Juncker ins Aus polemisier­t. Timmermans verkörpert vieles, was sich die Staats- und Regierungs­chefs von einem Kommission­spräsident­en wünschen: Er hat Regierungs­erfahrung, ist rhetorisch brillant, spricht sieben Sprachen – darunter Deutsch – fließend. Doch es sieht nicht danach aus, als könne der Hoffnungst­räger die Sozialdemo­kratie rechtzeiti­g wieder erwecken. Eine kleine Chance bleibt ihm, seitdem feststeht, dass Großbritan­nien an den Europawahl­en teilnimmt: Ein gutes Labour-Ergebnis könnte die sozialdemo­kratische Fraktion vielleicht erstarken lassen. Stark genug?

„Ich übernehme persönlich die Verantwort­ung dafür, dass Europa bis 2050 klimaneutr­al ist“, begann er die deutsche TV-Diskussion und bemühte sich, Entschloss­enheit ebenso zu verbreiten wie Zuversicht, dass dieses Europa ein Projekt ist, das bei ihm in guten Händen wäre.

Seine größte Rede wird in Rhetorik-Kursen gezeigt

In Moskau lernte er, was Totalitari­smus bedeutet

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Foto: John MacDougall, afp Frans Timmermann­s spricht sieben Sprachen fließend – auch Deutsch. Vielen gilt der bisherige Vize der EU-Kommission als idealer Nachfolger von Jean-Claude Juncker. Doch seine Sozialdemo­kraten schwächeln auf dem ganzen Kontinent.

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