Über verlorene und gefundene Heimat
Literatur Autor Sasa ´ liest in Mindelheim aus seinem Roman „Herkunft“ ˇ Stanisicˇ
Mindelheim Beim vierten Allgäuer Literaturfestival war der vielfach ausgezeichnete Autor Sasˇa Stanisˇic´ zu Besuch und las im Silvestersaal aus seinem Roman „Herkunft“. Er sei noch am Beginn seiner Lesereise für dieses Buch, erzählte Stanisˇic´ am Beginn seiner Lesung und doch hat man während der gesamten Lesung das Gefühl, dass er diese Geschichte eher erzählt als vorliest, vielmehr sogar gerade noch einmal erlebt – für alle Zuhörer gleich mit.
Das ist nicht weiter erstaunlich, ist es doch seine eigene Geschichte, die er in dem Buch aufgeschrieben hat. Dass sie noch so nah und lebendig in ihm ist, sobald er den ersten Satz, die erste Anekdote, die erste Kindheitserinnerung zum sichtbaren Bild werden lässt, ist ein wunderbares Geschenk für die Zuhörer, die so begeistert waren, dass Sasˇa Stanisˇic´ sogar eine Zugabe vorlesen sollte und das natürlich mit großem Vergnügen getan hat. Das Buch
Er erzählt, wie er in einem anderen Land Fuß fassen musste
„Herkunft“erzählt von seiner Kindheit in Jugoslawien, von dem Zusammenbruch des Vielvölkerstaates, von der Flucht nach Deutschland. Es erzählt aber auch von einem Fußballspiel und den großen Momenten der Kindheit, etwa einer grandiosen Schlittenfahrt und dem rot-weißen Fan-Schal von seiner Mannschaft „Roter Stern Belgrad“und dem ersten Verliebtsein. Diese Mannschaft war so wichtig, heißt es in einer Episode, dass er Physiotherapeut oder Ballwart oder wenigstens Ball habe werden wollen, um ihr nah sein zu können. „Herkunft“erzählt davon, wie ein Mensch, der seine Heimat zerfallen sah und in einem anderen Land Fuß fassen musste, sich der neuen Sprache und dem neuen Leben annähert und was aus dem Heimatbegriff wird. Ein Kapitel wird Stanisˇic´ genau darüber vorlesen, was er antwortet, wenn er nach Heimat gefragt wird. Dann wird er mit seiner lebendigen Art und so wohlklingenden Erzählstimme lesen: Für ihn sei Heimat ein alter Zahnarzt, „Dr. Heimat“, den er bei einem Gespräch über die Hecke kennengelernt hatte und der ihn und andere behandelt habe, ganz gleich welcher Herkunft sie waren, denn, so habe er gesagt, ihm sei es egal „in welcher Sprache die Karies der Zähne lispeln“würde. Auch hätte dieser Zahnarzt aus Schlesien mit ihm und seinem Vater, einem einfachen Bremser aus Jugoslawien, Nachmittage beim Angeln am Neckar verbracht, immer Saft und Bier dabei, weil man nie wisse, und dann hätten sie die wunderschönsten Stunden gemeinsam geschwiegen und dabei vor nichts Angst gehabt und – das bleibt nur zwischen den Zeilen und in der Luft hängen – damit mehr gesagt als nötig war, um ein Gefühl von neu entdeckter Heimat in dem Kind Sasˇa Stanisˇic´ zu wecken. Berührend, dabei unpathetisch, unmittelbar die Art wie Stanisˇic´ erzählt, anhand oft alltäglicher und vermeintlich intimkleiner Episoden erweckt er kunstvoll die eine große Geschichte von Heimatverlust und Heimatsuche zum Leben.
Während des Fußballspiels FC Bayern gegen Roter Stern Belgrad, das Sasˇa Stanisˇic´ als Kind besucht hat, vollzieht sich so im Hintergrund und beinahe bildhaft im Spiel auf dem Rasen ein Finale ganz anderer Art – der Beginn eines Krieges und damit die Zerschlagung Jugoslawiens.
Auch seine Annäherung an die deutsche Sprache, seine Auseinandersetzung mit dem Antrag an die Ausländerbehörde etwa, wird zur Schablone für den Abschied von seiner Biografie und für die Auflösung der Herkunft – und für seinen großartigen Start in eine neue Sprache. Eine Lesung mit Zugabe und am liebsten, das steht außer Frage, hätten die zahlreichen Besucher sich sicher gleich das ganze Buch vorlesen lassen.