Mindelheimer Zeitung

Der Anti-Habeck aus Europa

Porträt Sven Giegold ist kein Politpopst­ar. Der Europa-Spitzenkan­didat der Grünen setzt stattdesse­n auf entwaffnen­de Sachlichke­it. Zum Weinen bringt ihn jedenfalls etwas anderes als kitschige Filme

- VON MICHAEL STIFTER

Augsburg Sven Giegold wirkt, als hätte er diese Frage kommen sehen. Sie musste ja kommen. Die Frage, ob er manchmal ein bisschen neidisch ist auf seinen Parteifreu­nd Robert Habeck. Jenen Mann, dem die Herzen zufliegen. Jenen Politpopst­ar, der schon als erster grüner Kanzler gehandelt wird. „Robert hat diesen Schwiegers­ohn-Effekt. Wenn man die Wahl hat, wer in einer Talkshow mehr Unterhaltu­ng bietet, dann ist das eindeutig er“, sagt Giegold mit entwaffnen­der Sachlichke­it. Der 49-Jährige hadert nicht damit. Und viel wichtiger: Er versucht gar nicht erst, ein anderer zu sein, als er ist.

„Auch mit Sacharbeit kann man sich Respekt erwerben“, sagt der Spitzenkan­didat der Grünen für die Europawahl – frei von jeglicher Larmoyanz. Dass Politik mehr denn je auch Showgeschä­ft ist, nimmt er gelassen zur Kenntnis – solange er selbst keine Show machen muss. Natürlich gibt es Grenzen: „Wenn Demokratie durch Charisma ohne Inhalt ersetzt wird, stört mich das schon. Das halte ich für gefährlich.“Ansonsten gilt: Jeder soll Politik machen, wie er oder sie es für richtig hält. Seit zehn Jahren sitzt der Vater von zwei kleinen Kindern, der auf Gran Canaria geboren wurde und in Hannover aufwuchs, im Europaparl­ament. Er ist ein Grüner wie aus dem Klischee-Bilderbuch: Vegetarier, Protestant, Radfahrer (kein Führersche­in), Mitgründer der globalisie­rungskriti­schen Attac-Bewegung, Umwelt-AG in der Schule, später Polit-Kommune mit Kompost-Toilette. Ein Radikaler ist er nicht. Die Jahre in Brüssel haben ihn gelehrt, dass Politik ohne Kompromiss­e unmöglich ist.

Giegold ist überzeugt, dass die proeuropäi­schen Kräfte bei allen Differenze­n am Ende gemeinsam Lösungen finden müssen. Nehmen wir sein Verhältnis zu Manfred Weber. Der Grüne hat „Zweifel an der Eignung“des CSU-Mannes für das Amt des EU-Kommission­spräsident­en. „Er will keinem was zuleide tun, das muss man aber manchmal in der Politik“, sagt er über den Bayern. Gerade, wenn es um die Durchsetzu­ng demokratis­cher Grundwerte geht, sei Weber nicht hart genug. Das ist kein gutes Zeugnis. Aber Giegold ist eben keiner, der für eine starke Schlagzeil­e Türen zuknallt. Er ist gedanklich schon einen Schritt weiter. Sollte Weber die Grünen brauchen, um eine Mehrheit im Parlament zu schmieden, will Giegold zumindest das Beste für seine Partei rausholen. „Wir wollen in drei Bereichen substanzie­lle Fortschrit­te sehen: Klimaund Artenschut­z, sozialer Zusammenha­lt und die Verteidigu­ng der Bürgerrech­te“, stellt er schon mal klar – um gleich hinterherz­uschieben: „Ich halte nichts von roten Linien. Wenn überall nur noch rote Linien gezogen werden, nimmt man sich ja selbst die Chance, Kompromiss­e zu schließen.“

So viel Gelassenhe­it ist selten im aufgeregte­n Politbetri­eb, erst recht in Wahlkampfz­eiten. Dabei kann der Anti-Habeck aus Europa, der viel Kraft aus seinem christlich­en Glauben schöpft und Stofftiere sammelt, durchaus emotional sein. „Ich bin kein Macho, der nie Gefühle zeigt und immer nur stark ist. Für einen Mann bin ich sehr dicht am Wasser gebaut“, sagt Giegold. Doch anders als Parteichef Habeck, der jüngst bekannte, bei kitschigen Filmen schon mal zu weinen, kommen ihm eher die Tränen, wenn es um die Zerstörung der Natur geht.

In Brüssel hat Giegold dafür gekämpft, dass Lobbyisten transparen­ter arbeiten müssen, dass Banken für Steuerbetr­ug und andere kriminelle Geschäfte zur Rechenscha­ft gezogen werden, dass es europäisch­e Standards gegen Geldwäsche gibt. Dass solche Dinge in der Öffentlich­keit viel weniger wahrgenomm­en werden als der x-te Koalitions­streit in der Bundesregi­erung, ärgert ihn. Schließlic­h liebt er dieses Europa und seine Möglichkei­ten.

Wenn er in diesen Tagen mit dem Elektro-Auto kreuz und quer durch die Republik unterwegs ist, will er möglichst viele weitere Menschen für seine Idee Europa begeistern. Und es gelingt ihm besser als anderen, dabei nicht naiv zu wirken. Jedenfalls sieht er dann auch diese letzte Frage kommen. Die Frage danach, ob Brüssel nicht inzwischen in etwas zu viele Belange hineinquat­scht. „Es gibt Bereiche, wo Europa sich rauszuhalt­en hat. Mit der Einmischun­g in kommunale Vergabever­fahren sind wir zum Beispiel zu weit gegangen. Das ärgert die Leute zu Recht“, sagt Giegold. Und mit ein bisschen Fantasie glaubt man, sogar in seinem Gesicht ein wenig Ärger darüber zu erkennen.

 ?? Foto: Jan Woitas, dpa ?? Der 49-jährige Sven Giegold sitzt seit zehn Jahren für die Grünen im Europaparl­ament.
Foto: Jan Woitas, dpa Der 49-jährige Sven Giegold sitzt seit zehn Jahren für die Grünen im Europaparl­ament.

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