Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (125)
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat.
Scham, Rücksicht, Trotz sind nicht Empfindungen, die eine solche Prüfung überdauern, in der jedes einzelne Jahr zur Ewigkeit wird, in der auch die Opferidee, die offenbar als Frucht einer beispiellosen Leidenschaft eine Rolle spielt, der allgemeinen, inneren Verwesung mitverfallen muß. (Indem er dies dachte: allgemeine, innere Verwesung, wurde es Herrn von Andergast kalt und heiß um die Brust, er war also doch infiziert von der Atmosphäre des Schattenmenschen, er hatte den neunzehn Jahre dauernden Todesakt begriffen, war vielleicht sogar davon ergriffen worden, nachhaltiger, als er je gemutmaßt.) Was hat ihn verhindert, was? fuhr er zu bohren fort; eine ahnungsvolle Erkenntnis stieg auf: möglicherweise geht das sehr tief, überlegte er, möglicherweise war er sich bewußt, daß die Wahrheit nur für ihn selbst Wahrheit war, für mich, für uns aber nicht, für mich, für uns wurde sie erst in dem Augenblick reif, wo er, fast wider seinen Willen, bereit war,
sie auszusprechen. Wie, durchfuhr es ihn plötzlich erschütternd, wenn die Wahrheit nur ein Ergebnis des Zeitverlaufs wäre? wenn ich vor drei, vor fünf, vor zwölf, vor sechzehn Jahren zeitgetrübt, zeitbefangen, gar noch nicht imstande gewesen wäre, die Wahrheit aufzunehmen, dieselbe Wahrheit, die mir jetzt so glaubhaft, so einfach erscheint? Vielleicht entsteht die Wahrheit erst durch die Zeit und in der Zeit? Der Gedanke hatte etwas so Bestürzendes, er warf ein so tödlich-fahles Licht auf alles, was er bisher Urteil und Richtspruch genannt hatte, daß er ein paar Sekunden hindurch das Gefühl hatte, der feste Kern seiner Persönlichkeit sei auseinandergeronnen. In seiner Not und wie um sich vor Selbstzersetzung zu retten, griff er sofort nach den aktenmäßigen Details des „Falles“, die ihn schon während der ganzen Fahrt von Kressa in die Stadt wie ein Puzzle beschäftigt hatten, z. B. inwieweit die Darstellung Maurizius’ mit den in den Akten fixierten Zeitangaben übereinstimmte, diese Erwägungen hatte er schon vorher aufgegriffen und wieder fallengelassen. Kaum hatte er begonnen, sich von neuem darin zu vertiefen, als es leise an der Tür klopfte und Sophia eintrat.
Herr von Andergast blieb hinter seinem Schreibtisch stehn wie hinter einem Festungswall. Es war eine jener Situationen, in denen selbst der förmliche Gruß zur Unsinnigkeit wird. Er hatte die Frau seit beinahe zehn Jahren nicht gesehen. Es war ihm während dieser zehn Jahre nicht ein einziges Mal eingefallen, seine Gefühle gegen sie zu untersuchen. Abgetanes besaß kein Anrecht mehr auf den geordnet fortschreitenden Tag. Die Fähigkeit zur Erledigung war in seinem Privatleben genau so eminent wie in seinem Beruf. Rückstände aufzuarbeiten gab es hier wie dort eine festgesetzte Frist, war die verstrichen, so wurde die Angelegenheit ad acta gelegt. Die Frau hatte die Tür hinter sich geschlossen, stand fünf Schritte von ihm entfernt, aber er sah sie nicht, d. h. er wollte sie nicht sehen, er war in keiner Weise neugierig. Die etwas entzündeten Lider waren gesenkt, der mächtige Körper schwankte ein wenig. Er wartete. Ich bin hinlänglich vorbereitet, womit kann ich dienen? sagte seine eisig distanzierte Miene. Doch um die Nase herum dehnte sich eine schwimmende Blässe aus. Sophia schritt zu dem Ledersessel, der im Halbschatten vor dem Bücherregal stand und ließ sich lautlos nieder. Sie betrachtete den Mann mit ihren dunklen Augen. Um ihre Mundwinkel zuckte es bitter und drohend. Es schien, als wolle sie es erzwingen, daß er zuerst das Wort an sie richte. Sie kannte seine Hartnäckigkeit und empfand wie in früherer Zeit Verachtung gegen eine Haltung, von der sie wußte, daß sie nur die dürre Befolgung einer „Richtlinie“war. Sie sah aber bald ihren Irrtum ein, mit ihrem geschärften Instinkt blieb sie nicht im unklaren darüber, daß mit dem Mann eine Veränderung vor sich gegangen war, als sei von der steinernen Unrührbarkeit und angemaßten Machtvollkommenheit bloß noch Miene und Blick und Geste übrig, die unversehrte Schale einer ausgehöhlten Frucht. Diese Wahrnehmung stimmte sie nicht milder, nichts an ihm konnte sie versöhnlich stimmen, es erregte aber auch keine Genugtuung in ihr. Es interessierte sie nicht. Er war in ihren Augen keine Person, über die man nachdenkt. Der Platz, den er einstmals (fast ausschließlich in zerstörendem Sinn) in ihrem Leben eingenommen, war nicht mehr da. In einem Sturm aufgesammelter Entschlossenheit hatte sie die Reise angetreten, ihr ehemaliger Anwalt, mit dem sie bisweilen geschäftliche Briefe wechselte, hatte sie von Etzels Flucht in Kenntnis gesetzt. (Auch die beiden Briefe, die sie im März und April an Herrn von Andergast gerichtet und in denen sie unter Hinweis auf die Unhaltbarkeit und Unwürdigkeit der Maßregel, da doch der angeblich freiwillige Verzicht ein erpreßter Verzicht gewesen, die Aufhebung des bestehenden Zustands gefordert, hatte sie mit seinem Wissen geschrieben. Beide Briefe waren keiner Antwort gewürdigt worden, als sie es dem Rechtsfreund gemeldet, hatte sie hinzugefügt: Es war ein unverzeihlicher Fehler, an eine Instanz zu appellieren, die die menschlichen Vokabeln nicht versteht.) Die Nachricht und daß der Knabe unauffindbar blieb, hatte sie über alle Hemmungen hinausgetrieben und sie gegen die Folgen eines Schrittes, der genau betrachtet wenig praktischen Nutzen versprach, gleichgültig gemacht. Sie wollte handeln, sich zumindest zeigen, da die einschüchternde Angst von ehemals nicht mehr vorhanden war. Nun saß sie hier, stumm, gleichsam erstickt, genau wie damals, als er ihr nach Abpressung des Schuldbekenntnisses und Georg Hofers Selbstmord das wahnwitzige Dokument zur Unterzeichnung vorgelegt hatte, skrupelloser Ausbeuter ihrer Schuld und unter der Maske des Richters seiner Rache frönend.
Es entwickelte sich ein Dialog, der, durch das eigene Gewicht niedergezogen, die konventionellen Unvermeidlichkeiten abstieß, um sich in Tiefen zu verlieren, wo die Seelen sich in ihrer gesetzhaften Gegnerschaft sozusagen weltlos gegenüberstanden und der mit allen seinen Bezüglichkeiten, Verstecktheiten, Schweigepausen und stichwortartigen Verkürzungen kaum wiedergegeben werden kann. Oft antwortete nur das Verstummen des einen Partners der Rede des andern, deutlicher als mit Argumenten, zerrissene Gedankenreihen teilten sich mit, ein Achselzucken enthielt eine Geschichte, die Luft des Zimmers war mit Vibrationen geladen, die sich unmittelbar auf die Nerven der zwei Menschen übertrugen. Herr von Andergast begann damit, daß er leider nicht das Glück habe, über den Zweck des Besuches informiert zu sein, obschon er den Anlaß erraten könne, eine fade Redensart, die er noch dazu mit der nämlichen Stimme vorbrachte, mit der er sich in der Sprechstunde an eine Partei zu wenden pflegte. Nach reiflicher Erwägung der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer solchen Entrevue habe er sich für das erstere entschieden, jedoch… Emporheben der Schultern, wie wenn er damit am Ende seiner Weisheit wäre. »126. Fortsetzung folgt