Mindelheimer Zeitung

Die Almbauern und der Todesfall

Bald treiben die Tiroler Landwirte wieder ihre Kühe auf die Weiden. Mit ungutem Gefühl, seit ein Gericht einen Bauern zur Zahlung von einer halben Million Euro verurteilt­e. Seine Kühe hatten eine Urlauberin getötet. Nun haben die Landwirte gewichtige Fürs

- VON MARIELE SCHULZE BERNDT

Neustift im Stubaital Der Mann, über den ganz Österreich spricht, geht immerhin ans Telefon. „Für mich ist das Urteil eine Katastroph­e“, sagt er. „Ich hoffe nur, dass es zu meinen Gunsten geändert wird.“

Die Entscheidu­ng des Landgerich­ts Innsbruck liegt fast drei Monate zurück. Aber noch immer steckt dem Bauern der Schreck in den Gliedern. Deshalb also nur am Telefon, und auch nur kurz und widerwilli­g. Außerdem: „Ich bin im Urlaub in Südtirol“, sagt er. „Ich kann Sie nicht treffen.“Seine Frau hütet derweil den Hof im verregnete­n Neustift im Stubaital, wo die hohen Tiroler Berge vor lauter Wolken nicht zu sehen sind. Sie ist im Prozess als Zeugin befragt worden. Zum Urteil gegen ihren Mann will sie gar nichts sagen: „Da müssen Sie schon selbst mit ihm reden.“

Ausgangspu­nkt des ganzen Dramas ist ein Unglück im Sommer 2014. Damals töteten wild gewordene Kühe der Almbauernf­amilie eine 45-jährige Touristin aus RheinlandP­falz. Deshalb soll der Besitzer der Herde, der tagsüber als Haustechni­ker arbeitet, fast eine halbe Million Euro Schmerzens­geld und Rente an die Hinterblie­benen zahlen. Sein Rechtsanwa­lt hat Berufung eingelegt. Und das ganze Land diskutiert über den Fall.

„Je nachdem, wie viel die Versicheru­ng übernimmt, muss der Bauer seinen Hof verkaufen“, sagt Josef Lanzinger mitfühlend. Der hagere, braun gebrannte Mann leitet die Bezirksste­lle der Landwirtsc­haftskamme­r Tirol in Wörgl, einem kleinen Ort an der Autobahn zwischen Kufstein und Innsbruck. Von seinem Büro aus am Rande eines Gewerbegeb­iets setzt er sich für die 2000 Almbauern in Tirol ein. Am Schwarzen Brett suchen viele von ihnen noch Almplätze für ihr Vieh in diesem Sommer. Doch momentan beschäftig­t die Bauern vor allem das „Kuhurteil“. „Wir waren alle völlig schockiert über das Urteil. Es kann ja jeden von uns treffen“, sagt Lanzinger. „Ein Almbauer kann gar nicht so viel verdienen, in der Regel nur 900 bis 1000 Euro im Monat. Die Renten für die Hinterblie­benen in dem Fall liegen weit darüber.“

Lanzinger selbst hält Milchkühe, keine Mutterkuh-Herde. Milchkühe machen mehr Arbeit, gelten aber als weniger gefährlich. Auch Lanzinger bewirtscha­ftet eine Alm, an der ein Wanderweg vorbeiführ­t. Und auch in der Nähe seines Hofs in Kufstein kam 2017 eine Frau ums Leben, eine Tirolerin, als Kühe sie angriffen.

Der Tag, an dem die deutsche Urlauberin ihr Leben verlor, liegt fast fünf Jahre zurück. Am 28. Juli 2014 wurde sie mit ihrem Hund an der Leine, einem Kerry Blue Terrier, 30 Meter entfernt von einem voll besetzten Gasthaus von neun Mutterkühe­n und ihren Kälbern von hinten angegriffe­n. Die Tiere kreisten sie ein und töteten sie.

Christian Siller, der Wirt im Gasthaus Pinnisalm, hatte noch versucht, ihr zu helfen. Mit einem Wanderstoc­k schlug er auf die Kühe ein. Doch das blieb ohne Wirkung. Der Stock zerbrach. Erst als er einen Rechen holte, konnte er die Kühe vertreiben. Siller wurde vom Gericht ausführlic­h befragt und will jetzt nichts mehr dazu sagen; sein Geschäft hängt von den Almbauern ab. Sein Gasthaus mit knapp hundert Plätzen liegt auf 1560 Meter Höhe mitten auf ihrem Gelände.

Links und rechts des engen Tals ragen schroff die Gipfel der Stubaier Alpen empor. Von der Elferspitz­e führt im Winter eine Rodelbahn hinab. Und bei schönem Wetter bringt ein Shuttle über einen Geröllweg Gäste ins Gasthaus. „Ich muss ja mit den 15 Großbesitz­ern und vielen kleinen, die ihr Vieh auf die Alm bringen, weiter zusammenar­beiten. Ich bin an einem guten Verhältnis zu den Bauern interessie­rt,“sagt Siller.

Das Vieh des Pinnisalm-Bauern hatte schon einmal Gäste von ihm attackiert. Nur eine halbe Stunde vor der deutschen Spaziergän­gerin hatte es eine italienisc­he Familie mit zwei Hunden angegriffe­n. Im Urteil hieß es später, deshalb seien die Kühe besonders aufgeregt gewesen.

Zwei Gutachter und 32 Zeugen sagten vor Gericht aus. Dann kam der Richter zu dem Urteil, dass die deutsche Urlauberin keine Mitschuld traf. „An derart stark frequentie­rten Orten reicht ein bloßer Hinweis auf das Vorhandens­ein einer Mutterkuh-Herde nicht aus, sondern ist zusätzlich eine Abzäunung notwendig, um der von den Tieren ausgehende­n Gefahr zu begegnen“, hieß es. Mutterkühe mit Kälbern reagierten auf einen Hund wie auf einen Wolf und fühlten sich bedroht, hatte ein Gutachter in der Verhandlun­g erklärt.

Nach dem Urteil drohten die empörten Bauern damit, ihre Almen für Touristen, zumindest für diejenigen mit Hunden, zu schließen oder aber ihr Vieh den Sommer über im Stall zu lassen und die Almwirtsch­aft einzustell­en. Das Gelände durch Zäune zu trennen sei unmöglich; denn Kühe bräuchten den Zugang zum Wasser und müssten das Gras gleichmäßi­g abfressen. Trotzdem gibt es nun diesen Zaun, zumindest auf dem Areal des verurteilt­en Bauern.

Aus seiner – wie er es empfindet – Katastroph­e wurde die gefühlte Katastroph­e für alle Almbauern Österreich­s, und das Ganze natürlich schnell auch ein Politikum. Tourismusv­erbände warnten vor einem Einbruch des Sommertour­ismus, falls Almen geschlosse­n würden. Die typische Alm mit Blumen und Vieh sei der Tourismusm­agnet schlechthi­n, argumentie­rte die Wirtschaft­skammer.

Tirols Landeshaup­tmann Günther Platter (ÖVP), der auch für den Tourismus zuständig ist, ließ für erstaunlic­h wenig Geld eine neue Versicheru­ng auf den Weg bringen. Sie soll künftig eintreten, wenn weder die Haftpflich­tversicher­ung eines Bauern noch die des Almwirtsch­aftsverein­s für Schäden aufkommt. „Wie für die Mountainbi­ke-Trails gibt es jetzt eine Versicheru­ng für Almbauern. Bei Unfällen zahlt die Versicheru­ng, sogar dann, wenn der Besitzer fahrlässig gehandelt hat“, lobt Lanzinger die Politik in Innsbruck.

Auch die Bundesregi­erung in Wien reagierte. Anfang April stellte Tourismus-Ministerin Elisabeth Köstinger, eine Bauerntoch­ter aus Kärnten, ein Maßnahmenp­aket für „Sichere Almen“vor. Neben Empfehlung­en an die Bauern und Verhaltens­regeln für Wanderer plant sie eine Änderung der Tierhalter­haftung. Das neue Gesetz soll vor allem die Wanderer in die Pflicht nehmen.

Was die Landwirtsc­haftskamme­r freut, lehnt der Oberste Gerichtsho­f jedoch ab. Der Entwurf führe „in keinem Punkt zu einem Gewinn an Rechtssich­erheit“, heißt es in einer Stellungna­hme. Jetzt darf man gespannt darauf sein, ob sich die Regierung darüber hinwegsetz­t und das Gesetz, wie geplant, vor der Sommerpaus­e verabschie­det.

In Neustift im Stubaital ist das Paket „Sichere Almen“noch kein Thema. Hier sind zwischen Winterund Sommersais­on nur wenige Touristen unterwegs. Viele Hotels machen Pause oder bereiten sich auf den Trubel vor. Ihnen fällt nach dem Plan der Ministerin eine wichtige Rolle zu. Sie sollen ihre Gäste darüber aufklären, wie diese sich auf Wanderunge­n schützen können.

Daniel, 36, und Andreas Egger, 28, vom Hotel Stubaier Hof werben damit, dass sie für Hausgäste Touren anbieten. Ab Ende Juni sind sie wieder in den Bergen unterwegs. Ihre Eltern Marlene und Franz bewirtscha­ften seit 25 Jahren auf 2369 Metern Höhe die Innsbrucke­r Hütte mit 130 Schlafplät­zen, 100 davon im Wer dorthin will, um den Ausblick auf Habicht und Elferkamm zu genießen, passiert die Pinnisalm und jede Menge Kühe.

Andreas und Daniel Egger sagen, es sei ihnen ein Rätsel, wie es zum Unfall kommen konnte. „Eine Kuh ist auf der Weide, um Gras zu fressen, die Menschen sind ihr egal“, meint Andreas. Daniel kritisiert,

dass eine „Vollkaskom­entalität“um sich greife: „Wenn ich ans Meer fahre und beim Schwimmen ertrinke, mache ich auch niemanden dafür verantwort­lich, dass das Meer gefährlich ist.“Als Hoteliers wollen sie nicht die Verantwort­ung für die Sicherheit der Gäste auf der Alm übernehmen. Lediglich die Infoblätte­r mit den „Zehn Verhaltens­reMatratze­nlager. geln für den Umgang mit Weidevieh“würden sie gerne auslegen.

Darin heißt es, Wanderer sollen die Wege nicht verlassen, es sei denn, diese werden von Vieh blockiert. In dem Fall sollen sie möglichst großen Abstand halten und ausweichen. Mutterkühe mit Kälbern und Hunde sollen sich nicht begegnen. Nahen Kühe, soll man ihnen nicht den Rücken zukehren. Sie können bis zu 30 Stundenkil­ometer schnell werden, deshalb rät Bauern-Vertreter Lanzinger: „Immer den Berg hinauf weglaufen, das schaffen die Kühe nicht so schnell.“

Armin Stern, Obmann der örtlichen Sektion im österreich­ischen Alpenverei­n, ist ausnehmend gut gelaunt an diesem Tag, hat aber dennoch nicht viel Zeit. Obwohl es immer wieder regnet, steht für ihn noch eine Wanderung mit einer niederländ­ischen Dame an, die keine Erfahrung in den Bergen hat. Stern beobachtet seit Jahren, dass „der Respekt der Menschen vor den Tieren“steige. „Viele Leute fürchten sich jetzt vor Kühen. Doch die wirklichen Gefahren am Berg sind Herz-Kreislauf-Probleme und natürlich Abstürze,“sagt der Tiroler. Dass die Bauern nicht für ihre Tiere haften wollen, versteht er gut. „Der Bauer ist immer in der schwächere­n Position gegenüber den Wanderern. Dabei ist die Alm für die Tiere zur Sommerfris­che da.“

Bei allem Verständni­s, das die Politik für die Almbauern aufbringt, sollen dennoch künftig einige Regeln gelten. An Orten, wo viele Touristen unterwegs sind, sollen Zäune aufgestell­t werden, wenn sich dort auch Vieh aufhält. Außerdem sollen die Bauern darüber nachdenken, ob sie Umleitunge­n für Wanderer mit Hund ausschilde­rn. Ob dies den Praxistest übersteht, wird sich im Sommer zeigen.

Sepp Mayr, ein besonders stolzer Tiroler Almbauer, ist da skeptisch. Er richtet gerade die Schönanger Alm in der Wildschöna­u bei Wörgl für den Almauftrie­b her. In der Hütte, die eher einem stattliche­n Haus gleicht, werden die Unterkünft­e für Mitarbeite­r ausgebaut. Johann Schönauer putzt derweil seine Käserei. Hier wird die Milch zu Bergkäse, Emmentaler und sechs anderen Sorten sowie natürlich Butter veredelt. Bald sollen die ersten Kühe auf die Alm kommen. 25 Bauern treiben an die 450 Tiere in das 680 Hektar große Gebiet. Zahllose Wege schlängeln sich hindurch, auf denen sich Vieh und Wanderer zwangsläuf­ig begegnen müssen.

Mayr ist also kritisch, was die neuen Regeln angeht. „Die Bauern werden die Umleitungs­schilder aufstellen, wo sie es für richtig halten“, sagt er. „Aber ob sich die Leute daran halten? Viele sagen, ich bin seit 20 Jahren diesen Weg gegangen und mache das genauso weiter“, ist seine Erfahrung. Auf der Schönanger Alm könne man die Wanderwege im Weidegebie­t nicht einzäunen. „Wenn wir ein auffällige­s Tier beobachten, kommt es weg. Das haben wir aber nur ganz selten.“

Der Mann ist Sprecher der Almgenosse­nschaft und findet das angekündig­te Gesetz sehr gut. „Doch letztlich müssen wir das miteinande­r schaffen und durch Aufklärung dafür sorgen, dass der Gast und Wanderer sich anständig verhält“, hofft er. Dem verurteilt­en PinnisalmB­auern hilft das zunächst nicht. Er hat seit 2014 viele Elektrozäu­ne aufund wieder abgebaut, weil im Winter Lawinen auf der Alm abgehen. Jetzt wartet er auf das Urteil der zweiten Instanz.

Sein Anwalt Ewald Jenewein aus Innsbruck ist optimistis­ch: „Wenn es jetzt nicht vor dem Oberlandes­gericht gelingt, dann gehen wir vor den Obersten Gerichtsho­f in Wien.“Zumindest die Höhe der Renten für den gesundheit­lich angeschlag­enen Witwer und den Sohn sollen gesenkt werden. Schließlic­h habe sein Mandant viele Hinweissch­ilder aufgestell­t. Bei einem „vorsichtig­en Verhalten der Hundehalte­rin wäre auch der Unfall vom 28.04.2014 vermieden worden“, glaubt der Anwalt. Was bedeutet: Er will ein Mitverschu­lden der Touristin nachweisen. Doch genau das haben die Gutachter in erster Instanz widerlegt.

Einer sagt: Es kann jeden von uns treffen

Der Rechtsanwa­lt hat eine klare Strategie

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Fotos (2): Mariele Schulze Berndt Es ist ein ungemütlic­her Frühling in Tirol – nicht nur, was das Wetter betrifft. Sepp Mayr (links), Vertreter der Almbauern, hadert mit den Folgen des „Kuh-Urteils“. Neben ihm steht Käser Johann Schönauer.
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Symbolfoto: Johann Groder/APA, dpa Vorsicht Kuh! Bergwander­er sollten einige Regeln beachten, wenn sie einer Herde begegnen.

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