„Wir waren nicht besser, aber…“
Interview Der frühere Daimler-Chef Reuter geißelt Gehaltsexzesse bei Konzernen und knöpft sich die Europa-Politik der Kanzlerin vor. Zur miesen Stimmung im Land hat er seine eigene Theorie
Herr Reuter, trotz einer Dekade des wirtschaftlichen Aufschwungs ist die Gesellschaft im Unfrieden, es wird erbittert gestritten, Gruppen driften auseinander. Wie blicken Sie auf unser Land im Jahr 2019?
Edzard Reuter: In einem gewissen Sinn befinden wir uns wohl tatsächlich in einer kritischen Situation. Da will ich nicht darauf abstellen, dass sich die Wirtschaft etwas abzukühlen scheint. Vielmehr geht es mir darum, dass es vielleicht zumindest einer Mehrheit von uns zu gut geht. Dass es zuletzt immer bergauf ging, verführt anscheinend dazu, über alles nur Denkbare zu meckern oder es zumindest gering zu schätzen. Das hat sich eingebürgert und strahlt erkennbar auch auf die Parteienlandschaft aus. Das Aufkommen der AfD erscheint mir in diesem Sinne als ein Kennzeichen einer weit verbreiteten allgemeinen Unzufriedenheit und Unlust.
Dann müsste die Stimmung doch eigentlich leicht zu drehen sein? Reuter: Eigentlich schon. Aber die etablierten Parteien allesamt, vor allem die drei Partner der Großen Koalition, sind ganz offenbar ermüdet und erschlafft. Sie haben weder die Kraft noch den Mut, über die grundlegend wichtigen Fragen, die uns umtreiben müssten, kontrovers und zugleich fair zu diskutieren. Das gilt besonders für eine Reihe von sozialpolitischen Problemen, vor allem aber natürlich für das Thema Europa.
Ist die AfD also, wie Sie andeuten, ein Ventil für aufgestauten Frust, der auf dieser Brache erwächst?
Reuter: Sicher ist die AfD auch ein Ventil. Zugleich zeugt ihr Aufkommen allerdings von einer grenzenlosen Leichtfertigkeit. Diese gaukelt uns vor, wir sollten weitgehend zurück zu einer nationalen Abschottung, indem wir uns auf unsere angeblich eigenen Interessen konzentrieren. Das krasseste Beispiel dafür ist natürlich in der Einwanderungspolitik zu sehen, wo uns nach Art der Ungarn empfohlen wird, uns von jeglichen nicht benötigten Flüchtlingen abzuschotten.
Also liegt Juso-Chef Kevin Kühnert mit seinen Ideen über die Vergemeinschaftung von Immobilien und einem Autokonzern doch nicht so falsch, indem er große Fragen anschneidet? Reuter: Natürlich ist es eine Kinderei, zu glauben, man könne die Probleme Deutschlands lösen, indem man BMW in Gemeineigentum überführt. Das darf uns aber nicht daran hindern, ernsthaft über manche andere Themen zu diskutieren und zu streiten, die Kevin Kühnert zwar keineswegs neu erdacht, aber in der ihm eigenen Drastik aufs Tapet bringt. Wie sieht es wirklich aus mit Lösungen für den Wohnungsbau? Wie ist das Problem der steiMieten in den Griff zu kriegen? Wie helfen wir den Menschen, die im Alter finanziell nackt dastehen? Diese Debatte darf nicht totgetrampelt werden, indem man es sich leicht macht und lediglich vor einer Wiederbelebung sozialistischer Spinnerei warnt.
Plädiert hier ein früherer Chef eines Dax-Konzerns für den Ausbau des Sozialstaats?
Reuter: Wenn Sie den Begriff „Ausbau“durch „Umbau“ersetzen, ist Ihr Eindruck zutreffend.
Als Ausdruck der Ungerechtigkeit empört viele Menschen das Gebaren der Manager. Selbst die Firmenlenker, die ihre Unternehmen vor die Wand gefahren haben, gehen mit Millionen an Abfindungen nach Hause. Waren Sie als Manager früher besser?
Reuter: Natürlich waren wir nicht besser. Aber vielleicht war es eine Zeit, in der Moral höher zählte und menschliche Gier, von der niemand ausgenommen ist, noch nicht so ungezügelt losgelassen war wie im Augenblick. Bekommen die Manager zu viel Geld? Reuter: Bei den großen Dax-Unternehmen ist eindeutig eine Grenze überschritten, was aus ethischer Sicht nicht zu vertreten ist. Wir sollten diese Ausreißer aber nicht mit der riesengroßen Mehrzahl der zum großen Teil mittelständischen Unternehmen in einen Topf werfen, wo Bescheidenheit noch kein Fremdwort ist.
Wir stehen wenige Tage vor der Europawahl. Dabei werden Europa-Gegner wohl deutlich an Boden gutmachen. Sehen Sie die Europäische Union in Gefahr, in dem Sinne, dass sie zurückgedreht werden könnte?
Reuter: Diese Gefahr sehe ich durchaus. In allzu vielen Mitgliedsländern nimmt die um sich greifende Wiederbelebung nationalistischer Einstellungen täglich weiter zu. Das ist in der Tat lebensgefährlich. Denn hinter dem Getöse ist völlig aus dem Blick geraten, dass wir Europäer in den großen weltpolitischen Auseinandersetzungen, wie etwa zwischen den USA und China, schlankweg den Anschluss verlieren wergenden den, wenn wir nicht ein vergleichbares Gewicht auf die Waage bringen. Genauso gilt dies aber auch für die Geschehnisse vor unserer Haustür, im Nahen Osten.
Wenn Sie als ehemaliger Chef eines Weltkonzerns auf Europa blicken, trifft es dann zu, dass der Staatenklub unsere Lebensversicherung ist? Reuter: Eine Lebensversicherung wird erst gebraucht, wenn der Schaden schon eingetreten ist. Insofern passt die Begrifflichkeit nicht recht. Vielmehr geht es darum, dass wir als Europäer endlich begreifen müssen, dass es darum geht, um unseren den Platz in der Welt zu kämpfen. Dafür wird ein reiner „Klub“nicht ausreichen, sondern eine Vereinigung benötigt, die mit einer Sprache spricht.
Frankreichs Präsident Macron wollte genau das mit seinen hochfliegenden Plänen erreichen und ist an der Passivität von Bundeskanzlerin Angela Merkel gescheitert. Hat sie diesen Kampf für Europa richtig geführt? Reuter: Meine Antwort ist laut und deutlich: Nein. Das große Versäumnis aller der von Angela Merkel geführten Regierungen war und ist, dass sie es versäumt haben, ein zukunftsweisendes Konzept für die Vereinigung Europas zu entwickeln und gemeinsam mit Frankreich und anderen Partnern Schritt um Schritt voranzubringen. Diese Chance ist vertan worden. Vielmehr haben wir uns darauf beschränkt, als Musterknaben aufzutreten und dabei vor allem unsere Taschen zuzuhalten. Dabei hat kein anderes Land wirtschaftlich so stark von der EU profitiert wie Deutschland.
Von europäischer, gar weltpolitischer Dimension war der Mauerfall, der sich heuer zum dreißigsten Mal jährt. Vereinzelt beginnt jetzt eine Debatte, die Ereignisse der Revolution in der DDR und die Wiedervereinigung anders zu diskutieren und den Blick auf die Ostdeutschen zu richten. Braucht es eine Neubewertung von 1989/90?
Reuter: Natürlich wird es immer notwendig bleiben, derartige Diskussionen zu führen. Trotzdem bin ich überzeugt davon, dass das Thema im Moment viel zu hoch aufgehängt wird. Es ist eines der Kennzeichen für das, was ich zu Beginn unseres Gesprächs angemerkt habe: In mancherlei Hinsicht geht es uns womöglich zu gut und wir vernachlässigen sträflich die Themen, die uns eigentlich vorrangig umtreiben sollten.
Edzard Reuter, 91, war von 1987 bis 1995 Vorstandsvorsitzender der Daimler AG. Er ist der Sohn des früheren Berliner Bürgermeisters Ernst Reuter (SPD). Weil seine Familie vor den Nazis fliehen musste, verbrachte Reuter seine Kindheit in der Türkei. Er ist Mitglied der SPD.