Mindelheimer Zeitung

Europa ist besser als sein Ruf

Die Stimmung vor der Wahl am Sonntag ist angespannt. Daran trägt die Politik eine Mitschuld. Es wird Zeit für eine Frischzell­enkur

- VON MARGIT HUFNAGEL huf@augsburger-allgemeine.de

Ein mulmiges Gefühl begleitet dieses Wochenende. Fast schon mantraarti­g wurde es deshalb in den vergangene­n Wochen wiederholt, als ob man so die bösen Geister vertreiben könnte. Und deshalb soll die Beschwörun­gsformel an dieser Stelle noch einmal wiederholt werden: Bei der Europawahl steht viel auf dem Spiel, wer die Zukunft des Kontinents mitgestalt­en möchte, muss am Sonntag zur Wahl gehen. Die EU ist zu wichtig, um sie den Bremsern und Europafein­den zu überlassen.

Leider ist es den Politikern in diesem eher untertouri­gen Wahlkampf nicht gelungen, die Begeisteru­ng der Wähler zu wecken. Manfred Weber, Spitzenkan­didat der Konservati­ven, ist nett, aber ansonsten unauffälli­g. Kanzlerin Merkel hat zwar ihre Sorge um diese Europäisch­e Union bekundet,

ansonsten aber wenig getan, um die Götterfunk­en sprühen zu lassen. Auch die SPD ist eher mit den eigenen Problemen als mit denen der EU beschäftig­t. Mit durchschau­baren Manövern hat sie auf den letzten Metern versucht, noch ein paar Pflöcke einzuramme­n – doch die waren so morsch, dass sie von selbst zerbröselt­en. Das alles sagt mehr als alle mäßig motivierte­n Wahlkampfr­eden und Festanspra­chen. Und so sind es im Moment vor allem jene, die Brüssel einen Denkzettel mitgeben wollen, die sich für diese Wahl interessie­ren.

Dabei bräuchte das in die Jahre gekommene Projekt dringend eine Frischzell­enkur. Die Briten stolpern mit jedem Tag dem ungeordnet­en Brexit ein bisschen näher. Die Rechtspopu­listen beweisen, dass es ihnen nicht um das Wohl der Gemeinscha­ft, sondern um persönlich­e Abrechnung­en geht. Die Flüchtling­skrise ist noch lange nicht ausgestand­en. Der Handelskon­flikt mit den USA ist unberechen­bar geworden. Die Jugend will sich nicht länger mit lauwarmen Klimakonze­pten abspeisen lassen. Es reicht, wenn die Politik verzagt ist – wir Bürger sollten am Sonntag unsere Stimme erheben. Denn selbst wenn Europa für viele Menschen offenbar kein Herzensanl­iegen mehr ist, so gebietet es doch die Vernunft, die politische Institutio­n zu stützen, die uns Wohlstand und Frieden sichert.

Wer Europa schlechtre­det, verkennt die Wirklichke­it. Wer für sich selbst die Erfolge einheimsen will und den Bürokraten in Brüssel die Schuld an Misserfolg­en gibt, sagt nur die halbe Wahrheit – und die ist auch nicht besser als eine Lüge. An der historisch­en Leistung der Europäisch­en Union gibt es nichts kleinzured­en, nichts zu relativier­en. Es ist traurig, dass man inzwischen für europaskep­tische Parolen mehr Applaus einfahren kann als für mutige Vorschläge, die in eine gemeinsame Zukunft weisen.

Über so vieles muss sich Europa klar werden: Wollen wir eine gemeinsame Sicherheit­spolitik? Wie geht es in den vermurkste­n Beziehunge­n mit dem Autokraten am Bosporus weiter? Welche Antworten hat man auf die Frechheite­n aus dem Weißen Haus parat? Aber auch: Wie kann Europa endlich wieder eine wirtschaft­liche und innovative Führungsro­lle übernehmen? Welche Ideen haben wir in der drängenden Frage des Umweltschu­tzes? Europa muss Vorreiter sein, anstatt unter lautem Wehklagen die eigenen Befindlich­keiten zu bejammern.

Natürlich ist all das leichter gesagt als getan. Die Krisen der vergangene­n Jahre haben tiefe Spuren hinterlass­en: Finanzkris­e, Schuldenkr­ise, Flüchtling­skrise. Irgendwas war immer. Die Politik musste vor allem Löcher stopfen und kam viel zu selten dazu, gemeinsame Visionen auszuarbei­ten. Doch nun ist der richtige Zeitpunkt. Vielleicht ist die Angst vor einem politische­n Beben ja ein Weckruf. Ein Anlass zur Selbstbesi­nnung sollte sie auf jeden Fall sein.

Europa steckt fest im Dauer-Krisenmodu­s

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