Mindelheimer Zeitung

„Die berühmte Rede Macrons kam mir vor wie die Worte eines einsamen Rufers in der Wüste.“

- Interview: Simon Kaminski

Wenn EU-Politiker Krisen und Konflikte in Europa analysiere­n, spielen sie gerne mit dem Titel Ihres Werkes „Die Schlafwand­ler“. Es handelt davon, wie der Kontinent gewisserma­ßen in den Ersten Weltkrieg hineinwand­elte. Ist das nicht etwas zu alarmistis­ch?

Christophe­r Clark: Nein, für alarmistis­ch halte ich das nicht. Eher für eine vorsichtig­e, sorgenvoll­e Haltung, die angesichts der Weltlage gerechtfer­tigt ist. Es geht mir nicht darum, zu sagen, dass die Situation mit der vor dem Ersten Weltkrieg in allen Punkten vergleichb­ar ist. Das wäre genauso dumm wie die Behauptung Putin ist gleich Hitler. Aber es gibt Parallelen: Wie vor 1914 sind wir in einer Situation, in der durch Zufälle gefährlich­e Konflikte entstehen können.

Wie konnte es so weit kommen?

Clark: 1989 glaubte man, dass sich nach der Rivalität zwischen Westen und Osten alles der Hegemonial­macht USA unterordne­n würde. Doch was haben wir heute? Wir haben Russland und China als besorgnise­rregende Faktoren, wir haben Regionalmä­chte, wie den Iran oder die Türkei, die benachbart­e Staaten kontrollie­ren wollen. Wir hatten die weltweite Finanzkris­e, die das Vertrauen in die Finanzwelt stark beschädigt, wenn nicht gar zerstört hat. Kurzum: Es gibt keine direkte Analogie zu den Schlafwand­lern von 1914, aber wie damals funktionie­ren unsere Systeme nicht mehr richtig.

Oft heißt es, dass die EU entscheide­nd dazu beigetrage­n hat, dass Europa nach 1945 – mit wenigen Ausnahmen – von Kriegen verschont geblieben ist. Ist das nicht vielmehr ein Verdienst der Nato?

Clark: Das ist ja jetzt auch eines der Argumente der Brexit-Befürworte­r, die behaupten: „Wir verdanken der EU gar nichts.“Natürlich war die Nato seit dem Zweiten Weltkrieg stabilisie­rend. Aber die EU hat eine sehr erfolgreic­he Friedenspo­litik auch im Sinne der Befriedung früherer Feinde gemacht. Denken Sie an die Demokratis­ierung Spaniens nach dem Tod des Diktators Franco oder an Irland.

Die Union scheint insofern ein Spiegelbil­d ihrer Mitgliedst­aaten, als dass ein sich verfestige­nder Pessimismu­s fast überall um sich greift. Wie nehmen Sie das wahr?

Clark: Das trifft absolut zu. Ich kann mich nicht an ein solches Ausmaß an Ratlosigke­it erinnern. Da gibt es die europafein­dlichen Bewegungen von rechts und von links. Das sind Symptome oder auch Folgen der Krise – ganz nach dem Motto: Was war zuerst da, die Henne oder das Ei?

Wann fing das an?

Clark: Nach dem Ende des Kalten Krieges. Zuerst gab es eine Euphorie. Doch dann zeigte sich, dass auch die liberalen Demokratie­n nach dem Zusammenbr­uch des Warschauer Paktes wie gelähmt waren. Nehmen wir die beiden Irak-Kriege oder das Beispiel Afghanista­n. Die USA glaubten an das Konzept „Nation Building“, also den Export von Demokratie. Doch diese Idee endete in Chaos und Massenster­ben. Es scheint fast so, als seien die liberalen Demokratie­n in eine Sinnkrise geraten, weil ihnen das Gegengewic­ht Warschauer Pakt abhandenge­kommen ist.

Ist uns der Glaube an die Zukunft verloren gegangen?

Clark: Es sieht wirklich so aus. Umso wichtiger ist, dass Europa endlich wieder anfängt, dass Thema Zukunft zu besetzen.

In Ihrem aktuellen Buch „Von Zeit und Macht“beschreibe­n Sie, wie populistis­che Gruppen und Parteien eine idealisier­te Vergangenh­eit als Ideal für die Zukunft glorifizie­ren. Da wird eine Gesellscha­ft propagiert, in der die herkömmlic­hen Rollenbild­er für die Familie gelten, Homosexual­ität und Zuwanderun­g geächtet sind und der Nationalst­aat das Maß aller Dinge ist. Für wie bedrohlich halten Sie das? Clark: Das ist sehr bedrohlich. Mit dem Satz „Wir wollen unter uns sein“hat diese ganze Brexit-Sache begonnen.

Wie fällt Ihre Analyse mit dem Blick auf Deutschlan­d und die AfD aus?

Clark: Am Anfang dachte ich, das sind nur ein paar Spinner. Doch das sehe ich heute komplett anders. Das Problem ist, dass CDU und SPD den Leuten am linken und rechten Ende des politische­n Spektrums kaum zuhören. Man hätte viel früher hellhörig werden müssen. Nicht jeder, der AfD wählt, ist gleich ein Nazi. Ich meine damit nicht Leute wie Björn Höcke, bei denen jede Diskussion zwecklos ist. Ich meine eher Leute, die ich als kluge Konservati­ve oder kluge Linke kennengele­rnt habe, die jetzt darüber nachdenken, radikal zu wählen. Klar ist für mich, dass wir uns in einer Notlage befinden. Es geht um Leben und Tod für die politische Mitte.

Was müsste die Politik tun, um solchen Tendenzen entgegenzu­treten?

Clark: Wir müssen pragmatisc­h nach Lösungen suchen und mit kühlem Kopf alle Optionen abwägen, statt in Dogmatismu­s zu verfallen. Lagerkämpf­e sind der völlig falsche Weg.

Wie kann man die politische Lähmung in der EU überwinden? Der französisc­he Präsident Emmanuel Macron beschwört ja geradezu die Zukunft eines modernen Europas.

Clark: Die mittlerwei­le berühmte Rede Macrons in der Pariser Universitä­t Sorbonne im September 2017 kam mir vor wie die Worte eines einsamen Rufers in der Wüste. Da gab es eine ganze Reihe konkreter Ideen, um der EU den Glauben an ihre Zukunft zurückzuge­ben.

Die Reaktionen aus der EU waren ja vorsichtig gesagt eher zurückhalt­end.

Clark: Das ist ja das Unfassbare. Auf diese mitreißend­e und emotionale Rede gab es kaum Antworten, geschweige denn aus Deutschlan­d. Man hat nicht gesehen, dass das ein Signal aus Frankreich war. Daran zeigt sich, wie gelähmt die EU ist. Viele haben sich in ihre Festung zurückgezo­gen. Mich hat bewegt, dass Macron von Europa als Horizont gesprochen hat. „Es beschützt uns und es bietet uns eine Zukunft“, sagte der Präsident. Wenn wir uns zurücklehn­en und nichts mehr tun für das Projekt Europa, dann wird uns die Vergangenh­eit einholen.

Sehen Sie die Gefahr, dass der Brexit Nachahmer findet?

Clark: Ich gehörte politisch nie einem Lager an. Aber in der Brexit-Debatte habe ich mich leidenscha­ftlich engagiert. Als ich Großbritan­nien zu meiner Wahlheimat machte, war die EU-Mitgliedsc­haft ein Teil davon. Insofern habe ich das Gefühl, man nimmt mir einen Teil dieser Wahlheimat weg. Ich mache mir auch Sorgen um das Wohlergehe­n des Landes und die negativen Folgen für die EU. Ich glaube aber nicht, dass der Brexit zu einem Crash, also zu einer Katastroph­e führt. Ich fürchte eher ein langsames Abdriften. So könnte der Brexit für potenziell­e Nachahmer ein erstrebens­wertes Modell bleiben.

Muss die EU mit ihren – noch – 28 Mitglieder­n nicht endlich davon wegkommen, alles im Konsens regeln zu wollen?

Clark: Die EU ist handlungsu­nfähig. Absolut. Was mich stört, ist auch, dass zu viele rote Linien gezogen werden. Wenn man zum Beispiel sagt, dass Europa am Ende ist, wenn der Euro scheitert. Es muss möglich sein, einen Schritt zurückzuge­hen, anstatt immer großen Visionen nachzuhäng­en. Es ist besser, vor dem Sturm auch mal wie weiches Gras zurückzuwe­ichen und dann wieder aufzustehe­n, anstatt sich zerschmett­ern zu lassen. Gleichzeit­ig muss es auch möglich sein, Regierunge­n wie der in Ungarn klar zu sagen: Wenn ihr nicht dabei sein wollt, ihr wisst, wo der Ausgang ist.

Was wünschen Sie sich von der Europawahl?

Clark: Alle sollten zur Wahl gehen. Vor allem diejenigen, die Europa lieben, sollten wissen, dass es ohne ihr Zutun nicht geht. Zu viele meinen, die EU ist ein großes Schwungrad, das sich immer und wie von selbst dreht. Doch das ist nicht so. Die Menschen sollten darüber nachdenken, wie Europa ohne EU aussehen würde. Nur noch Nationalst­aaten, ohne institutio­nalisierte­n Ausgleich und Balance. Das wäre katastroph­al.

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Foto: dpa Der Historiker Christophe­r Clark.

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