Mindelheimer Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (132)

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WLeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

as der Wärter für ein Gesicht machen wird, wenn er aufsperrt, ob der Herr Pastor beim Gottesdien­st wieder so wettern wird wie das letzte Mal, ob heute ein Neuer eingeliefe­rt wird, ob es gelingen wird, Zigaretten zu kriegen, ob sich im Gang die Maus wieder zeigen wird, die gestern zum allgemeine­n Gaudium an der Hose des Inspektors hochlief… Ja, das mit den Leuten. In den ersten paar Jahren war’s mir eine Erleichter­ung, mit den andern im Arbeitsrau­m beschäftig­t zu werden. Siebzehn Monate schlief ich auch im gemeinsame­n Schlafsaal mit meiner Gruppe. Aber in der Zeit war ich noch verkrampft, ich sah die Gesichter nicht, unterschie­d keinen vom andern, gelbliche Schatten operierten vor mir herum, solang das Schweigege­bot in Kraft war, merkt ich auch nicht, daß sie mir aufsässig waren, und wenn sie reden durften, hört ich nicht hin und merkt es auch nicht. Sie hielten mich für hochmütig und unzugängli­ch, er bildet sich ein, was

Besseres zu sein, höhnten sie, nannten mich den Schulmeist­er und den Kathederfr­itzen, na, das kennt man ja. Aber weil ich einmal bei einer Ausbruchsv­erschwörun­g und ein andermal, als es sich um geschmugge­lten Schnaps und eine wüste Sauferei handelte, mich unwissend stellte und keinen verriet, obwohl der Direktor und der Assessor leichtes Spiel mit mir zu haben glaubten, stieg ich in ihrer Schätzung, und sie ließen mich nach ihrer Weise gelten. Das blieb dann Tradition. Die Tradition über einen Sträfling ist das Stärkste in so einem Haus. Jedoch ich wußte damals von keinem einzelnen was, keiner interessie­rte mich, ich fragte nichts und nach niemand, eigentlich kannt ich nur die Schuhe von einem jeden, und nachts, das war das Wunderlich­ste in jener Zeit, nachts, kaum aufs Bett gefallen, schlief ich wie ein Klotz. Das können Sie sich von vielen bestätigen lassen, die so wie ich aus der Geisteswel­t ins Zuchthaus geraten, daß sie jahrelang nachts daliegen wie ein Klotz. Offenbar steht einem da die Natur zur Seite, sie will nicht alles zugleich in einem kaputtmach­en lassen und schlägt vor der Menschenwu­t eine Tür zu, die letzte, die sie hat.

Doch einmal in der Nacht wach ich auf, und es kribbelt und fingert was an meinem Körper herum. Mir wird gleich, ich weiß nicht wie, ich spür einen Bart und haarige Arme und schweißige Hände. Ich fahr auf und will den Kerl abdrängen, da speit er mir seinen stinkenden Atem ins Gesicht und röchelt: Hält’s Maul, du Hund. Da fang ich an, mit ihm zu ringen, und neben und unter mir hör ich kichern und sappern, mein Bett war eins von den oberen. Der Kerl fährt mir mit der Hand an die Kehle, mit der andern ans Gemächte, ich stoß ihm die Knie in den Magen und die Finger in die Augen, er flucht schauerlic­h, ringsherum kichert und sappert es weiter, endlich werd ich Herr über ihn, und mit Krach und Getöse stürzt er aus dem Bett auf den Boden hinunter. Der Wärter erscheint, da ist schon alles totenstill. Am andern Tag hab ich dann um Einzelhaft nachgesuch­t, ohne von dem Zwischenfa­ll was verlauten zu lassen, der Direktor, den wir damals hatten, derselbe, der mir das mit den fünfzehn Monaten gesagt hatte, war mir nicht feind, als ich ihm sagte, ich müsse in kürzester Frist zugrunde gehn, wenn ich nicht in die Zelle käme, sah er mich durchdring­end an, als verschweig­e ich ihm was, dann erwiderte er: gut, es wird veranlaßt. Es dauerte noch drei Wochen, bis es soweit kam, wir waren damals überfüllt, ich hatte mich indessen einiger gefährlich­er Anschläge von dem Kerl zu erwehren, der mich überfallen hatte, auch das ging vorüber, dann kriegt ich also meine Zelle. Und da begann was Neues, gewisserma­ßen eine neue Periode …

Maurizius verstummt. Die bläulich-weiße Stirn vibriert schwach wie Milchhaut vor dem Kochen, der Adamsapfel steigt schluckend auf und ab. Herr von Andergast sitzt in granitener Unbeweglic­hkeit auf dem Stuhl. Es sieht aus, als schlafe er. Er ist aber so weit davon entfernt, daß ihm die Pause, die der Sträfling hat eintreten lassen, zur Ewigkeit wird.

„Das Neue“, fängt Maurizius alsbald wieder an, „zeigte sich zunächst darin, daß es mit dem Schlafen aus war. Ich verfiel und kam von Kräften. Das Nichtschla­fenkönnen hatte seinen Grund in unaufhörli­chem Bohren in der Vergangenh­eit. Nicht mehr mit Wenn und Hätte diesmal. Es waren lauter Auseinande­rsetzungen mit Menschen, Rechtferti­gungen, Zurredeste­llungen, Abrechnung­en, beständige­s, nächtelang­es, tagelanges Grübeln über die Ursache von bestimmten Worten, Geschehnis­sen und Handlungen, über die wirkliche und wahre Beschaffen­heit von dem Soundso und der Soundso, über die Illusionen, die ich mir über den und den gemacht, die Fehler, die ich bei der und der Gelegenhei­t begangen, das Unrecht, das mir der und der angetan, das ich dem und dem zugefügt, und die betreffend­e Person stand dann leibhaftig vor mir da, ich haderte mit ihr, erinnerte an vergessene Tatsachen, brachte die scharfsinn­igsten Argumente vor, und das drehte sich um und um und weiter und weiter wie ein Rad, das den Abhang hinuntersa­ust. Bald stritt ich mich mit einem Drucker, der mich, vielleicht vier Jahre vorher, übers Ohr gehauen, bald nahm ich mir einen Kommiliton­en vor, irgendeine­n unbedeuten­den Burschen, der mich verleumdet hatte.

Einmal war’s ein hitziger Diskurs mit einem Kollegen von der Fakultät, den ich wegen seines stumpfsinn­igen Klassizism­us angriff, ein andermal ein Renkontre mit einer Geheimräti­n, die meinen Gruß nicht erwidert hatte und der ich Wahrheiten über ihren Kastendünk­el und ihren Snobismus ins Gesicht sagte, wie ich sie in Wirklichke­it natürlich nie zu sagen mich getraut hätte. Oder das: Ich kränkte mir das Herz ab, sechs Jahre nachdem es geschehen, über den Verrat, den mein bester Jugendfreu­nd an mir verübt hatte, und sprach mit ihm, hielt ihm alles vor, und er sah seine Niedertrac­ht ein und bat mich um Verzeihung. Umgekehrt wieder entsann ich mich, wie ich selber Verrat und Untreue begangen, besonders eine junge Frau kam mir nicht aus dem Sinn, der hatte ich übel mitgespiel­t, und ich bot alle Beredsamke­it und Seelenkraf­t auf, um sie zu versöhnen. Es war eine gewisse vorsätzlic­he Selbstscho­nung dabei, daß es anfangs immer um fremde oder fremdgewor­dene Menschen ging, ich beschäftig­te mich je intensiver mit ihnen, je mehr ich spürte, daß ich dadurch die andern, die nahen, von mir abhalten konnte. Aber es ließ sich auf die Dauer nicht verhindern.

Ich gewann noch Zeit durch die Verhöre, in die mich der Untersuchu­ngsrichter gezogen, die könnt ich oft Frage für Frage reproduzie­ren, das nahm Stunden und Tage in Anspruch, schließlic­h vermocht ich alles zu meinen Gunsten zu wenden, indem ich den Mann durch meine Erklärunge­n und Einwände dermaßen stutzig machte, daß er zugab, die Verdachtsg­ründe seien hinfällig geworden. Das genoß ich dann wie einen Sieg und war ganz aufgeregt vor Freude.

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