Courage im fünften Anlauf
Salzburger Festspiele I In Horváths „Jugend ohne Gott“geht es um persönliche Verantwortung in einer faschistoiden Gesellschaft. Thomas Ostermeier inszeniert den Roman virtuos, ohne ihn ins Heute zu übertragen
Salzburg Auch der verängstigte Opportunist, auch der zögerliche Wegducker kann noch ein Vorbild werden, ohne ein strahlender Held zu sein. Dann, wenn er sich überwindet, wenn er doch Courage zeigt, sei es auch im fünften Anlauf. Wer seinem Gewissen folgt und Wahrheiten ausspricht, ist nie ganz allein. Dann trauen sich auch einzelne andere, Lügen und Ideologiefesseln abzuschütteln, Verantwortung zu übernehmen und sich zu bekennen.
Wie ein Mensch mit all seinen Brüchen, Zweifeln und Schwächen einen solchen Prozess der Läuterung und Befreiung durchläuft, das zeigt Ödön von Horváth in seinem 1937 erschienenen, von den Nazis später verbotenen Roman „Jugend ohne Gott“am Beispiel eines Lehrers, der sich einer mitleidlosen, verrohten Jugend gegenübersieht. Der Roman, obschon in einem fiktiven Staat im „Zeitalter der Fische“angesiedelt, beschreibt natürlich die Verhältnisse im nationalsozialistischen Deutschland Mitte der 30er Jahre. Horvath, der lange Zeit selbst laviert und sich aus Angst vor Verarmung den Nazis angebiedert hatte, schrieb sich mit diesem Buch frei in eine entschiedene Haltung. Nun hat Thomas Ostermeier „Jugend ohne Gott“mit der Schaubühne am Lehniner Platz Berlin für die Salzburger Festspiele auf die Bühne des Landestheaters gebracht.
Der Abend zeigt, was Theater kann. Aber er zeigt auch, welchen Preis die Konzentration auf die Virtuosität hier hat: Das Beklemmende verliert sich, das Beunruhigende, Aufwühlende verflüchtigt sich.
Die Dramatisierung des Romans mit seinen 44 Kapiteln ist in der Inszenierung von Ostermeier und seinem Dramaturgen Florian Borchmeyer ein bemerkenswertes Widerstehen. Und zwar ein Widerstehen gegenüber der Versuchung, den Stoff zu aktualisieren, ihn ins Heute zu übertragen und ihm Verweise auf zeitgenössische Verhältnisse überzustülpen. Stattdessen bleibt die Produktion nah an Horváths Text und der Zeit, in der er geschrieben wurde. Schüler, die von Eltern, Radio und Kino gleichgeschaltet und ideologisch geimpft werden und die eigenen Lehrer bespitzeln. Paramilitärische Zeltlager für Jungs und Mädchen, wie sie in HJ- und BDMZeiten üblich waren. Duckmäuserische Erwachsene, die aus Angst lieber schweigen und sich die eigene Meinung verkneifen oder eifrige Denunzianten sind. Ein Satz wie „Afrikaner sind auch Menschen“, mit dem sich der Lehrer bei Horváth Ärger einhandelt, genügt schon, um sich verdächtig zu machen als „Feind des Systems“. Und dann ist „Jugend ohne Gott“nicht zuletzt auch eine Kriminalerzählung, in der – auch vor Gericht – die Frage beantwortet wird, wer den Schüler N im Wald mit einem Stein erschlagen hat.
Der Lehrer, gespielt von dem formidablen Jörg Hartmann, ist das Zentrum des naturalistischen Bühnengeschehens. Hartmann zeichnet diesen Lehrer als Mann zwischen abgeklärter Ruhe und fiebrigem Voyeurismus, ein Desillusionierter, der sich am Ende selbst rettet. Um ihn herum agieren zwei Schauspielerinnen (zwei Bayerinnen in Berlin: Veronika Bachfischer, Alina Stiegler) und fünf Schauspieler, die in schnellem, oft fliegendem Szenenwechsel jeweils mindestens vier Rollen übernehmen. Ostermeier hat das Roman-Personal von 40 Personen auf nur acht Darsteller verteilt. Wie das ambitionierte Spiel gelingt, mit welcher Präzision, Plausibilität und Virtuosität Regie und Ensemble agieren, das ist großes, klassisches Theater-Handwerk: Vor einem Wald aus laublosen Stämmen im Bühnenhintergrund wechseln auf der freien Spielfläche Requisiten, Szenerien und Rollen in schnellen Schnitten. Wie Ostermeier die vielen inneren Monologe des Lehrers auf die Bühne bringt und auf verschiedene Stimmen verteilt, ohne dass je Verwirrung entsteht – das ist ebenso faszinierend anzusehen wie die dosiert, aber meisterhaft eingesetzten Videosequenzen (verantwortet von dem Franzosen Sebastien Dupouey). Mal ist eine Wolldecke die Leinwand, dann ein kleines Zelt, auf das ein Farbfilm aus den 1930er Jahren projiziert wird, der Nazideutschland als bunten Reigen des unbekümmerten Freizeitlebens zeigt.
In zwei Stunden und zwanzig Minuten ohne Pause erleben die Premierenbesucher im Landestheater nicht nur Tempo- und Stimmungswechsel von der Miniszene bis zum ruhigen Ausspielen eines Gesprächs. Auf der Bühne sind Gedanken und Wirklichkeit, Text und Bilder, Gegenwart und Vergangenheit gleichzeitig auf einer Ebene zu erleben. In der Szene, da der Lehrer heimlich das Tagebuch des Schülers W liest, sehen wir den lesenden Lehrer, den schreibenden Schüler – und die Erlebnisse, die er beschreibt.
Horváths Roman verhandelt viele Themen. Es geht um Schuld und persönliche Verantwortung, um die Frage, wie und von wem ein junger Mensch geprägt wird, es geht um die Struktur einer faschistoiden Gesellschaft und die Ausbeutung der Armen durch die Reichen, um Liebe – und natürlich um freies Denken und den Glauben, wobei „Gott“hier eher ein moralisches Prinzip als eine religiöse Größe ist.
Die Schaubühne präsentiert sich in Salzburg als ein perfekt miteinander agierendes und aufeinander reagierendes Ensemble. Minutenlang werden Produktionsteam und Schauspieler gefeiert.
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Weitere Vorstellungen in Salzburg: 30. Juli, 1., 4., 7., 9., 10. und 11. August. Die Berliner Premiere der Inszenierung an der Schaubühne ist am 7. September.