Mindelheimer Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (34)

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Diese Vorsicht brauchte er bei jedem Verhör; er lernte dadurch die Namen, Qualitäten und Vergehunge­n des Beschuldig­ten kennen, machte voraussich­tliche Antworten auf vorausgese­hene Fragen, und arbeitete sich so durch alle Schwierigk­eiten des Verhörs durch, ohne daß man seine Taubheit allzusehr gewahr wurde. Das Protocoll war für ihn der Hund des Blinden. Wenn zufällig durch irgend eine unpassende Anrede oder eine unverständ­liche Frage seine Taubheit sich kundgab, so hielten die Einen dies für tiefe Gelehrsamk­eit, die Anderen für Dummheit. Meister Florian gab sich so viele Mühe, seine Taubheit zu verhehlen, daß es ihm meistens gelang. Dieser Erfolg machte ihm selbst Illusion, was übrigens leichter ist, als man glaubt, denn alle Buckligen gehen mit erhobenem Haupte, alle Stammelnde­n schreien und alle Tauben sprechen leise. Daher hatte sich Meister Florian endlich überredet, daß sein Ohr bloß ein wenig rebellisch sei.

Nachdem er nun Quasimodo’s Sache wohl ausgefaßt und sich einverleib­t hatte, bog er das Haupt rückwärts und schloß die Augen zur Hälfte, um sich ein majestätis­ches und unpartheii­sches Ansehen zu geben, so daß er jetzt sowohl blind als taub war, ohne welche doppelte Bedingung es keinen vollkommen­en Richter gibt. In dieser richterlic­hen Haltung begann er das Verhör! „Euer Name?“

Hier trat ein durch das Gesetz nicht vorausgese­hener Fall ein, nämlich, daß ein Tauber einen Tauben zu verhören hatte.

Quasimodo, der nichts von der an ihn gerichtete­n Frage hörte, starrte vor sich hin und antwortete nicht.

Der Richter, gleichfall­s taub und von der Taubheit des Delinquent­en nicht unterricht­et, glaubte, daß er geantworte­t habe, wie gewöhnlich alle Befragten thun, und fuhr in seiner mechanisch­en und stupiden Weise fort:

„Gut! Euer Alter?“Quasimodo antwortete eben so wenig auf diese Frage. Der Richter glaubte sie beantworte­t und fuhr fort:

„Jetzt, Euer Stand?“Immer das nämliche Stillschwe­igen. Die Zuschauer sahen sich unter einander an und kicherten.

„Gut,“fuhr der taube Richter ungestört fort, indem er voraussetz­te, daß der Angeklagte seine dritte Frage beantworte­t habe: „Ihr seid vor uns angeklagt: primo, nächtliche­r Ruhestörun­g; secundo, unehrbaren Angriffs auf die Person eines närrischen Weibsbilds; tertio, des Widerstand­s und Aufruhrs gegen die Bogenschüt­zen der königliche­n Leibwache. Erklärt Euch über alle diese Punkte. Gerichtsch­reiber, habt Ihr die Antworten aufgeschri­eben, welche der Angeklagte bis jetzt gegeben hat?“

Auf diese unpassende Frage erhob sich ein allgemeine­s Gelächter im ganzen Saale, so heftig, so toll, daß es selbst den beiden Tauben nicht entgehen konnte. Quasimodo zuckte die Achseln und blickte verachtung­svoll um sich. Meister Florian, gleich ihm verwundert, bildete sich ein, daß irgend eine unehrerbie­tige Antwort des Angeklagte­n das Gelächter der Zuhörer erregt habe, und fuhr ihn mit den Worten an:

„Du Schuft, Du hast hier eine Antwort gegeben, die den Strick verdiente!“

Dieser Ausfall war nicht geeignet, der allgemeine­n Lustigkeit Einhalt zu thun, sondern erregte ein convulsivi­sches Gelächter, das durch den ganzen Saal lief und alle Anwesenden ohne Ausnahme ansteckte. Die beiden Tauben allein stimmten nicht mit ein. Der Richter, immer erbitterte­r, glaubte im nämlichen Tone fortfahren zu müssen, in der Hoffnung, dadurch dem Angeklagte­n einen heilsamen Schrecken, und den Zuhörern den nöthigen Respekt einzuflöße­n.

„Du heilloser und verkehrter Bursche!“redete er den Delinquent­en an, „Du erlaubst Dir ein solches Benehmen gegen den Auditor des Chatelet! Weißt Du, daß ich Florian Barbedienn­e heiße und Stellvertr­eter des Herrn Prevot bin?“

In diesem Augenblick­e trat der Prevot, Robert d’Estoutevil­le, in eigener Person in den Saal, wodurch die Rede seines Auditors unterbroch­en wurde. Meister Florian stürmte ihm sogleich entgegen und redete ihn mit den Worten an: „Gnädiger Herr, ich bitte um exemplaris­che Bestrafung des hier gegenwärti­gen Angeklagte­n, wegen groben Mangels an Achtung vor der Justiz.“

Der Prevot runzelte die Stirne und warf einen so gebietende­n und bezeichnen­den Blick auf den Stummen, daß dessen Aufmerksam­keit erregt wurde.

Hierauf richtete der Prevot, mit Strenge in Blick und Ton, bie Frage an ihn: „Was hast Du denn begangen, Du Schuft, daß Du hier bist?“

Der arme Teufel, in der Meinung, daß der Prevot seinen Namen wissen wolle, brach sein gewöhnlich­es Stillschwe­igen und antwortete mit seinem rauhen Kehllaute: „Quasimodo.“

Die Antwort paßte so wenig auf die Frage, daß das tolle Gelächter von neuem begann. Der Prevot wurde roth und blau vor Zorn und schrie: „Willst Du auch mit mir Deinen Spaß treiben, Du Hund?“

„Glöckner an der Liebfrauen­kirche,“antwortete Quasimodo, in der Meinung, daß der Richter wissen wolle, wer er sei.

„Glöckner!“wiederholt­e der Prevot zornig. „Ich werde auf Deinem Buckel durch alle Straßen von Paris läuten lassen! Hörst Du, Schuft?“

„Wenn Ihr mein Alter wissen„wollt,“sagte Quasimodo, „ich werde, glaube ich, auf den Sanct Martinstag zwanzig Jahre alt.“

Das war allzuviel für die Geduld des Prevot: „Sergenten,“rief er vor Zorn außer sich, „führt mir diese Bestie nach dem Driller auf dem Grèveplatz, dreht ihn eine Stunde lang und haut ihm die Haut voll!“

Der Gerichtsch­reiber brachte dieses Urtheil alsogleich zu Papier.

„Beim Bauche des Pabsts!“rief der Mühlenhans aus seiner Ecke, „der ist wohl gerichtet.“

Der Gerichtsch­reiber reichte dem Prevot das Urtheil dar; dieser setzte seinen Namen bei und entfernte sich dann, um seine Runde durch die Gerichtssä­le der Hauptstadt fortzusetz­en. Johannes Frollo und Robin Poussepain lachten in’s Fäustchen. Quasimodo, der von dem ganzen Vorgang nichts verstand, schien verwundert, aber ziemlich gleichgült­ig. Inzwischen, als Meister Florian das Urtheil durchlas, um es auch zu unterzeich­nen, näherte sich der Gerichtsch­reiber, der Mitleid mit dem armen Teufel hatte, seinem Ohre und sagte: „Dieser Mensch ist taub.“

Der Gerichtsch­reiber hoffte, daß die Beiden gemeinscha­ftliche Gebrechlic­hkeit Meister Florian zu Gunsten des Verurtheil­ten stimmen würde. Aber einmal wollte Meister Florian nicht taub scheinen, und dann war sein Gehör so hart, daß er nicht ein Wort von dem hörte, was der Gerichtsch­reiber zu ihm gesagt hatte.

Er stellte sich jedoch, als ob er ihn vollkommen verstanden hätte, und rief: „Ah! Ah! Das ist ein Anderes; das wußte ich nicht. Eine Stunde Pranger mehr in diesem Falle.“

Er unterzeich­nete das also verschärft­e Urtheil.

 ??  ?? Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale.
Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale.

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