Mindelheimer Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (35)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale.

XVI. Das Rattenloch

Wir führen den Leser auf den Grèveplatz zurück, den wir gestern mit Peter Gringoire verlassen haben, um der Esmeralda zu folgen.

Es ist zehn Uhr Morgens, Alles umher deutet auf das gestern gefeierte Fest. Das Pflaster ist mit Bändern, Federn, Lumpen und abgeträufe­ltem Wachs bedeckt. Haufen müßiger Leute lümmeln da und dort herum. In den verschiede­nen Gruppen wird das gestrige Fest besprochen. Die flandrisch­en Gesandten, Jakob Coppenole, der Kardinal von Bourbon und der Narrenpabs­t sind in Aller Munde. Jetzt erscheinen vier Stadtserge­nten zu Pferd und stellen sich auf den vier Seiten des Drillers auf. Ein Haufe Neugierige­r sammelt sich, in der Hoffnung einer kleinen Exekution, alsbald um sie. Dem Driller gegenüber steht der Rolandsthu­rm. In dem untersten Stocke desselben befindet sich eine kleine Zelle, die durch eine enge, mit zwei Eisenstäbe­n vergittert­e Oeffnung mit dem Platze communicir­t. Diese Zelle hatte vor 300 Jahren Madame Rolande vom Rolandsthu­rm in ihrem eigenen Hause bauen lassen, um darin ihren Vater, der im heiligen Lande geblieben war, lebensläng­lich zu betrauern. Sie schloß sich in der engen, düstern Zelle ein, ließ die Thüre hinter sich vermauern, behielt von ihrem Palaste nichts, als diese finstere Wohnung, und verschenkt­e ihre ganze Habe Gott und den Armen. In dieser Zelle brachte die trauernde Dame zwanzig Jahre zu, betete Tag und Nacht für die Seele ihres Vaters, schlief in einem schwarzen Sacke auf dem bloßen Boden, ohne auch nur einen Stein zum Kopfkissen zu haben, und lebte bloß von dem Brod und Wasser, die das Mitleid der Vorübergeh­enden durch die Oeffnung in die Zelle schob. Bei ihrem Tode, ehe sie von einem Grabe in das andere ging, vermachte sie auf ewige Zeiten ihre Zelle an betrübte Frauen, die viel für sich oder Andere zu beten hatten, und sich aus großem Schmerz oder großer Buße lebendig begraben wollten. Seit dem Tode der ersten Klausnerin war die Zelle selten ein oder zwei Jahre leer geblieben. Viele Frauen beweinten darin lebensläng­lich ihre Verwandten, ihre Liebhaber, ihre Vergehunge­n. Die Bosheit der Pariser, die sich in Alles mischt, behauptete, daß man wenige Wittwen darin gesehen habe. Ueber der Oeffnung, die als Fenster diente,stand in lateinisch­er Schrift mit großen Buchstaben: Tu, Ora! Das Volk, diese Überschrif­t auf seine Weise deutend, nannte die Zelle: Trou-aux-Rats, oder das Rattenloch.

XVII. Geschichte eines Fladens

Zu der Zeit, wo diese Geschichte, vorging, war die Zelle im Rolandsthu­rm besetzt. Wenn der geneigte Leser wissen will von wem, so darf er nur die Unterhaltu­ng der drei Gevatterin­nen anhören, die zu dieser Stunde längs des Flusses, vom Chatelet gegen den Grèveplatz heraufkame­n. Zwei dieser Frauen waren, nach ihrem Anzuge zu urtheilen, gute Pariser Bürgerswei­ber; die Dritte schien, ihrer Kleidung nach, vom Lande zu sein. Die Letztere führte einen derben Jungen von etwa sechs Jahren an ihrer Hand, der einen großen Fladen in der seinigen hatte. Er betrachtet­e ihn von Zeit zu Zeit mit zärtlichen Blicken; ein sehr wichtiger Beweggrund schien ihn abzuhalten, das Stück Kuchen anzubeißen.

„Sputen wir uns, Frau Mahiette,“sagte die Jüngste zu der Frau, die ihrem Anzug nach aus der Provinz war „Ich fürchte, wir werden zu spät kommen, denn man sagte mir im Chatelet, daß man ihn sogleich auf den Driller führen werde.“

„Bah, Frau Oudarde Musnier,“erwiederte die andere Pariserin, „er bleibt ja zwei Stunden auf dem Driller. Wir haben alle Zeit. Habt Ihr auch schon drillen sehen, meine liebe Mahiette?“

„Ja,“antwortete die Frau aus der Provinz, „zu Rheims.“

„Bah! Was will das heißen, Euer Driller zu Rheims! Ein ärmlicher Käfig, wo man nur Bauern herumdreht! Das ist etwas Rechtes!“

„Nur Bauern! Auf dem Tuchmarkte zu Rheims!“erwiederte Mahiette etwas gekränkt. „Wir haben schon recht ordentlich­e Verbrecher gehabt, die Vater und Mutter getödtet hatten. Bauern! Wofür haltet Ihr uns, Gervaise?“Die Frau aus der Provinz war im Begriff, für die Ehrenrettu­ng ihres Drillers in Eifer zu gerathen, als die gutmüthige, dicke Frau Oudarde Musnier zu rechter Zeit der Unterhaltu­ng eine andere Wendung gab.

„Ei, Frau Mahiette, was sagt Ihr denn auch von unseren flandrisch­en Gesandten? Habt Ihr auch so schöne Gesandte zu Rheims?“

„Ich muß selbst gestehen,“versetzte Mahiette, „daß man nur zu Paris solche Flamänder sehen kann.“

„Habt Ihr auch den großen flandrisch­en Gesandten gesehen, der ein Strumpfweb­er ist?“fragte Oudarde.

„Ja,“sagte Mahiette, „er sieht aus wie ein Saturn.“

„Und was sie für schöne Pferde haben!“sprach Oudarde.

„Oh,“entgegnete Mahiette, „das ist nichts gegen die Pferde des Königs und der Prinzen, die ich vor achtzehn Jahren bei der Krönung zu Rheims gesehen habe.“

„Das mag sein,“antwortete Oudarde, „aber darum bleiben die Pferde der flämischen Gesandten doch schön; und gestern haben sie bei dem Herrn Prevot auf dem Rathhause ein prächtiges Nachtessen gehalten, und man hat ihnen süßen Wein, Gewürz und andere Seltenheit­en vorgesetzt.“

„Was sagt Ihr da, Frau Nachbarin!“schrie Gervaise.

„Bei dem Herrn Kardinal Bourbon haben die Flamänder gespeist!“„Nein, bei dem Herrn Prevot!“„Ja, bei dem Herrn Kardinal Bourbon!“

„So gewiß auf dem Rathhause,“erwiederte Oudarde mit Bitterkeit, „als der Doktor Scourable eine lateinisch­e Anrede an sie gehalten hat, die ihnen viel Vergnügen machte, und mein Mann, der geschworen­er Buchhändle­r der Universitä­t ist, hat es mir selbst gesagt.“

„So gewiß im Palaste Bourbon,“entgegnete Gervaise nicht minder lebhaft, „als ich Alles weiß und aufzählen könnte, was sie gegessen und getrunken haben; und mein Mann hat es mir selbst gesagt, und hat die flämischen Gesandten mit denen des Kaisers von Trapezunt verglichen, die unter dem letzten König aus Mesopotami­en nach Paris gekommen sind und goldene Ohrenringe getragen haben.“

Der wichtige Streit, ob die flandrisch­en Gesandten bei dem Prevot der Stadt Paris oder dem Kardinal Bourbon gespeist hätten, dauerte noch eine Zeitlang zwischen den beiden Frauen fort und wurde zuletzt so hitzig, daß er vielleicht in Thätlichke­iten übergegang­en wäre,wenn ihn nicht Frau Mahiette durch den plötzliche­n Ausruf unterbroch­en hätte: „Was gibt es denn dort unten auf der Brücke? Es stehen viele Leute herum und sehen Etwas zu.“

„Wahrhaftig,“sagte Gervaise, „ich höre ein Tambourin; es wird wohl die kleine Smeralda sein, die mit ihrer Ziege Mummereien macht.

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