Mindelheimer Zeitung

Gefahr im Gebirge

Freizeit Die Wandersais­on wird überschatt­et von zahlreiche­n dramatisch­en Unfällen. Immer wieder stürzen Menschen in den Tod. Ob es dieses Mal besonders schlimm ist, wie sich die Unglücksza­hlen in den vergangene­n Jahren verändert haben und wie ein Allgäuer

- VON STEPHANIE SARTOR

Immenstadt Als stünden da zwei Hochhäuser aus Stein, grau und glatt, ganz nah beieinande­r. Die Wände streben senkrecht nach oben, dorthin, wo man das Blau des Himmels sehen kann. Und zwischen diese gewaltigen Felsen, in den schmalen Spalt, da wollen sie hin, die Kletterer, die Berg-Enthusiast­en, die, die die Höhe lieben – und ein bisschen auch das Risiko. Peter Pfister ist einer von ihnen. Und er weiß, wie schnell die große Freiheit zur großen Gefahr werden kann.

Es ist ein warmer Sommertag, die Sonne scheint. Pfister ist mit einem Freund in der Zugspitzre­gion unterwegs. Er klettert den schmalen Spalt zwischen den Wänden nach oben, spreizt sich mit beiden Beinen zwischen die Felsen. Plötzlich rutscht sein Fuß ab, Pfister versucht, sich mit den Händen irgendwo festzuhalt­en. Dann knackt es. Drei Mal. „Meine Schulter war gesplitter­t und ausgekugel­t“, erzählt der Kemptener. „Die Schmerzen waren furchtbar.“

Die beiden Kletterer haben ein Handy dabei und alarmieren die Bergwacht. Pfister holt seine Kamera heraus, schaltet den Blitz ein und sendet so immer wieder Lichtsigna­le, damit die Retter ihn finden können. Schließlic­h kommt der Hubschraub­er, Pfister wird auf eine Wiese geflogen. Dort bekommt er eine Infusion. Dann sind die Erinnerung­en weg. Als er wieder aufwacht, ist er im Krankenhau­s in Innsbruck.

Der Unfall, von dem Pfister nun, in der Hoch-Zeit der diesjährig­en Wander- und Klettersai­son, erzählt, ist schon einige Jahre her. Wäre er in diesem Jahr passiert, würde er sich einreihen in eine erschrecke­nde Serie von Unglücken. Man kommt angesichts der Fülle der Vorfälle nicht umhin, sich zu fragen: Ist es in diesem Jahr besonders schlimm? Nimmt die Zahl der Unfälle in den Alpen zu? Und wenn das so ist: Warum eigentlich?

Zu den tragischen Meldungen, die diesen Bergsommer begleiten, gehören diese: Ein 38 Jahre alter Mann ist Ende Juli am mehr als 2000 Meter hohen Entschenko­pf bei Oberstdorf unterwegs. Auf dem Weg zurück ins Tal stürzt er und fällt das felsige Steilgelän­de hinunter. Er stirbt. Kurz darauf verunglück­t ein 75-jähriger Wanderer auf einem Gratweg im Naturpark Nagelfluhk­ette im Oberallgäu tödlich. Er verliert das Gleichgewi­cht und stürzt 60 Meter tief ab. Anfang August stirbt ein Vater vor den Augen seiner Frau und seiner kleinen, neunjährig­en Tochter. Der bergerfahr­ene 54 Jahre alte Mann gerät mit seiner Familie am Koblat bei Bad Hindelang in unwegsames Gelände. Er rutscht aus und stürzt über eine Felskante in den Tod. Wenige Tage später kommt ein 68-jähriger Mann bei einer Bergtour im Karwendelg­ebirge ums Leben. Als er den Kletterste­ig bereits verlassen hat, stürzt er 150 Meter ab. Die Retter können nur noch seinen Tod feststelle­n.

Am vergangene­n Freitag stirbt ein 30-jähriger Mann bei einem Abfällen in der Watzmann-Ostwand. Auf rund 1700 Metern Höhe rutscht er an einem steilen, felsigen Abschnitt rund 150 Meter in die Tiefe. Und erst am vergangene­n Sonntag verunglück­t ein 29 Jahre alter Mann auf einem Kletterste­ig in den Ammergauer Alpen tödlich. Der Bergsteige­r ist auf dem Tegelberg bei Schwangau unterwegs. Er hakt seinen Karabiner nicht am Drahtseil ein – und stürzt 40 Meter im freien Fall in die Tiefe.

Die Geschäftss­telle der Bergwacht Allgäu in Immenstadt. Peter Haberstock – orangefarb­enes T-Shirt, kurze braune Haare – sitzt in einem nüchternen Besprechun­gsraum. Auch er hat in den vergangene­n Wochen bemerkt, dass sich die Unfälle häufen. Der Geschäftss­tellenleit­er faltet die Hände vor sich auf der weißen Tischplatt­e, blickt durch das Fenster hinaus auf den Parkplatz und die Bäume und sagt: „Ja, im Moment ist richtig viel los.“Allerdings lägen die Unfallzahl­en im Allgäu derzeit in etwa auf dem Niveau des Vorjahrs. Ein Fazit über die aktuelle Wandersais­on könne man erst im Herbst ziehen.

In den kommenden Wochen wird das Wetter eine entscheide­nde Rolle spielen. Wenn es im August und September viel regnet, dann könnten die Zahlen unter denen des Vorjahres liegen, erklärt Haberstock. Wenn es in den nächsten Wochen aber warm und sonnig bleibt, dann könnten die Unfallzahl­en über denen von 2018 liegen. Denn es sei ja so: Je besser das Wetter, desto mehr Menschen zieht es hinaus in die Natur und hinauf in die Berge. Und mehr Menschen bedeuten auch mehr Unfälle. Was Haberstock aber sagen kann, ohne zu wissen, wie sich die aktuelle Sommersais­on noch entwickeln wird, ist das: In den vergangene­n zehn Jahren hat die Zahl der Unfälle in den Bergen dramatisch zugenommen.

Das hat man Schwarz auf Weiß, wenn man sich die Statistik der Bergwacht Bayern ansieht. Die Einsätze im Sommer sind von 1582 im Jahr 2006 auf 3071 im vergangene­n Jahr gestiegen – das ist fast eine Verdoppelu­ng. Auch die Zahl der sogenannte­n Einsätze mit Todesfolge ist gewachsen, von 85 im Jahr 2006 auf 98 im Jahr 2018 – diese Zahlen beziehen sich allerdings auf Sommerund Wintereins­ätze.

Der Grund dafür, dass es immer mehr Unfälle gibt, ist offensicht­lich: Wandern ist zu einer Trendsport­art geworden. Immer mehr Menschen sind in den bayerische­n Alpen und den Mittelgebi­rgen unterwegs. Aus einer einst kleinen Bergsteige­rSchar, die sich der Einsamkeit der Berge hingab, ist inzwischen eine Massenbewe­gung geworden. Aus dem stillen Abenteuer von früher wurde eines für jedermann. Und ein Ende des Booms ist nicht abzusehen. Die Besucherza­hlen steigen von Jahr zu Jahr. Zwischen 2003 und 2017 gab es in Bayern bei den Touristena­nkünften einen Zuwachs um 62 Prozent. Im selben Zeitraum erreichte das Allgäu sogar ein Plus von 95 Prozent.

Auch Peter Haberstock sagt: „Es gehen heute einfach viel mehr Menschen in die Berge als früher.“Haberstock steht jetzt in der Garage der Bergwacht Immenstadt, in der er – neben seinem Job als Geschäftss­tellenleit­er der Allgäuer Bergwacht – seit Jahrzehnte­n als Retter aktiv ist. Neben ihm reichen die Regale bis zur Decke. Rucksäcke und Luftrettun­gsgurte lagern dort, Decken und Vakuum-Matratzen. Und Leisturz

Die Ausrüstung, die hier aufbewahrt wird, dient hauptsächl­ich zu Schulungsz­wecken. Die Ausbildung, die ein Bergretter absolviere­n muss, ist umfangreic­h. Die künftigen Helfer müssen nicht nur die Standardno­tfallverso­rgung lernen, sondern auch, wie man sich von einem Hubschraub­er abseilt, einem Notarzt assistiert und Patienten im steilen Gelände sicher transporti­ert.

Wie man mit tragischen Todeschens­äcke. umgeht, ist indes nicht so leicht zu lehren. „Ich bin immer gut mit schlimmen Einsätzen klargekomm­en“, erzählt Haberstock, geht ein paar Schritte und bleibt dann neben einem Einsatzfah­rzeug stehen. Es gebe aber auch Kollegen, die nach dramatisch­en Einsätzen vom Kriseninte­rventionst­eam betreut werden müssten.

Haberstock ist seit 40 Jahren bei der Bergwacht – er weiß, wie schlimm die Einsätze sein können. Denn über die Jahre hat er viel gesehen. Leichen, die erst nach einigen Tagen aus einer Lawine ausgegrabe­n wurden. Oder die menschlich­en Überreste von Passagiere­n eines abgestürzt­en Sportflugz­eugs.

Kann man Unfälle verhindern? Durch die richtige Ausrüstung, eine gute Planung? Trotz der besten Vorbereitu­ng könne immer etwas passieren, sagt Haberstock. Dennoch gebe es schon ein paar Dinge, die man beachten sollte, um das persönlich­e Risiko zu minimieren. „Es wäre wichtig, dass die Menschen nur die Touren machen, die sie auch im Kreuz haben“, sagt er. Wenn ein Nicht-Kletterer in schwierige­s Felsgeländ­e gehe, dann sei das unvernünft­ig, sagt er.

Und wer keine Kondition hat, der sollte sich an keinen Acht-StundenMar­sch wagen. „Es kommt immer wieder vor, dass sich Wanderer eine lange Tour vornehmen und bei der Hälfte merken, dass sie es nicht schaffen werden“, erzählt der Bergretter. „Wenn es dann dunkel wird und sie keine Taschenlam­pe dabei haben und nicht mehr weiterkomm­en, bleibt ihnen nichts anderes übrig,

Wandern ist zu einer wahren Trendsport­art geworden

Immer wieder überschätz­en sich Touristen selbst

als Hilfe zu rufen.“Selbstüber­schätzung sei nicht der einzige Grund für einen Rettungsei­nsatz. Meist sei es einfach Pech. Etwa, wenn jemand unglücklic­h mit dem Fuß umknickt und dann einfach nicht mehr weitergehe­n kann.

Dass es einfach nicht mehr weitergeht, kennt Peter Pfister aus eigener leidvoller Erfahrung. Der Mann, der sich bei einer Tour die Schulter ausgekugel­t hatte, könnte sich trotzdem niemals vorstellen, nicht mehr zu klettern. So oft es geht ist er in den Bergen unterwegs.

Brenzlige Situatione­n hat er immer wieder erlebt – und das stört ihn eigentlich auch gar nicht. „Ich habe mit dem Fallschirm­springen aufgehört, weil es mir zu langweilig war. Klettern hingegen ist eine Herausford­erung.“

Gleich nach seinem Unfall, bei dem er mit einem Hubschraub­er gerettet werden musste, war ihm diese Herausford­erung aber zunächst zu groß. „Ich habe fast zwei Jahre gebraucht, bis ich wieder normal klettern konnte. Ich hatte einfach Angst“, erzählt der 52-Jährige. Heute sei das wieder anders, fährt er fort. „Man wird mit der Zeit abgebrühte­r und blendet vollkommen aus, dass man tödlich verunglück­en könnte.“Also wird er weitermach­en. Wird weiter steile Berge hinaufstei­gen und durch schmale Spalten klettern. Spalten zwischen grauen, glatten Felswänden, die aussehen wie gewaltige Hochhäuser aus Stein.

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Foto: BRK BGL, dpa Die Watzmann-Ostwand: Vor wenigen Tagen stürzte dort ein 30-jähriger Bergsteige­r in den Tod. Zeugen des Unfalls waren so schockiert, dass sie nicht mehr weitergehe­n konnten und ins Tal geflogen wurden.
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