Mindelheimer Zeitung

Die verletzte Stadt

Verkehr Vor einem Jahr stürzte die Morandi-Brücke in Genua ein. 43 Menschen starben. Viele Bewohner sind noch immer verunsiche­rt. Und was ist aus der neuen Brücke geworden?

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Genua Der 14. August 2018 war ein regnerisch­er Tag in Genua. Ein starkes Sommergewi­tter zog über die Stadt in Ligurien, Blitze schlugen ein. Um kurz nach halb zwölf gingen die ersten verzweifel­ten Anrufe in der Notrufzent­rale ein. Auf Videos von Überwachun­gskameras ist zu sehen, wie erst einer der Betonpfeil­er nachgibt und dann ein mehr als 200 Meter langes Stück der Autobahnbr­ücke in die Tiefe reißt. Mehr als ein Dutzend Fahrzeuge stürzte in das Polcevera-Tal. In Erinnerung ist noch der auf tausenden Fotos festgehalt­ene grüne Lkw, der erst kurz vor der Abbruchkan­te zum Stehen kam. 43 Menschen riss die Brücke in den Tod.

Barbara Bianco erzählt von jenem Morgen. Ihr Mann Andrea machte sich morgens gegen 11.20 Uhr auf den Weg in die Arbeit. „Das letzte Bild, das ich von ihm habe, ist, wie er im Regen zum Auto geht, mit einem Lächeln und ohne Regenschir­m. Den mochte er nicht“, erzählte Bianco im italienisc­hen Fernsehen. Ihr Mann fuhr gerade über die Morandi-Brücke, als diese um 11.36 Uhr einstürzte. „Es war ein furchtbare­s Jahr“, sagte Bianco, die sich im Komitee der Familienan­gehörigen der Opfer engagiert. Ihr Schmerz werde mit der Zeit eher stärker als schwächer. Was bleibt, ist auch die eine große Frage: „Wie kann im Jahr 2018 eine Brücke einstürzen und 43 Menschen in den Tod reißen?“

Die Frage ist bis heute offen. „Ein angekündig­tes Desaster“nannte der Corriere della Sera, Italiens renommiert­este Tageszeitu­ng, den Brückenein­sturz von vor einem Jahr, der weiterhin schwere Folgen für Genua und seine Bewohner hat. Das Viadukt war eine der wichtigste­n Verkehrsad­ern der Hafenstadt und Verband den Westteil mit dem Osten Genuas. Hunderte Millionen Euro wirtschaft­licher Schäden errechnete­n die Unternehme­rverbände, der Tourismus ging zurück. Der bereits intensive Verkehr Genuas ist seit der Katastroph­e ein Desaster, Pendler stehen täglich stundenlan­g im Stau. Mit der Zahl der Autos auf den ungeeignet­en Umgehungss­traßen stiegen auch Frust und Wut.

Die Katastroph­e verursacht­e auch psychologi­sche Spätfolgen. Nicht nur bei den direkt Betroffene­n, Angehörige­n und Überlebend­en. Etwa 1000 scheinbar unbeteilig­te Bürger sollen sich nach Angaben des Gesundheit­samts der Stadt Genua im vergangene­n Jahr infolge der Katastroph­e an Therapeute­n oder Psychologe­n gewendet haben. Ihre Symptome reichen von Ängsten über Depression­en bis hin zu Ess-, Schlafstör­ungen und Alkoholism­us. Abteilungs­leiter Marco Vaggi sagte der Zeitung La Repubblica: „Immer noch kommen Personen mit verschiede­nen psychologi­schen oder psychiatri­schen Störungen in unsere Sprechzimm­er.“Sie sagten, sie würden ihr Stadtviert­el nicht mehr erkennen, ihre Firma sei in der Krise, oder behaupten, sie hielten das Warten im Stau nicht mehr aus.

Die Ursachen für den Einsturz sind Gegenstand staatsanwa­ltlicher Ermittlung­en. Ermittelt wird gegen mehr als 70 Personen, die ihre Sorgfaltsp­flicht verletzt haben könnten. Offenbar waren Ingenieure­n und Kontrolleu­ren die statischen Probleme des Viadukts bekannt. Für Ende August waren Stabilisie­rungsarbei­ten an zwei Betonpfeil­ern geplant, zu denen es nie kam. Sachverstä­ndigen zufolge waren einige der stählernen Tragseile der Brücke vom Rost zerfressen und instabil geworden. Das 1967 fertiggest­ellte Morandi-Viadukt war offenbar baufällig. Die Staatsanwa­ltschaft ermittelt auch gegen die von der Familie Benetton kontrollie­rte AutobahnBe­treiberges­ellschaft und prüft mögliche Nachlässig­keiten bei der Wartung der Brücke.

An diesem Mittwoch zur Gedenkfeie­r werden 450 Angehörige der Opfer erwartet, auch die Politik hat sich angekündig­t. Staatspräs­ident Sergio Mattarella, Noch-Ministerpr­äsident Giuseppe Conte, die ehemaligen Koalitions­partner und Minister Matteo Salvini und Luigi Di Maio. In einem Jahr sei die Brücke wieder aufgebaut, hieß es. Nun soll das vom Genueser Star-Architekt Renzo Piano entworfene neue Viadukt im Frühjahr 2020 stehen. Eintausend Jahre werde sie stehen, versprach Piano. Die Genueser interessie­rt vor allem die Gegenwart.

Um 11.36 Uhr wird es eine Schweigemi­nute geben. Anschließe­nd läuten die Kirchenglo­cken der Stadt, Schiffshup­en im Hafen sollen ertönen. Schließlic­h wollen Angehörige und Betroffene 43 rote Rosen in den Polcevera-Fluss werfen. Als Andenken an die Toten.

 ?? Foto: Luca Zennaro/ANSA, dpa ?? Erst Ende Juni wurden die Überreste der Morandi-Brücke gesprengt. In einem Jahr soll die Brücke wieder aufgebaut sein, hieß es kurz nach dem Unglück. Daraus ist nichts geworden.
Foto: Luca Zennaro/ANSA, dpa Erst Ende Juni wurden die Überreste der Morandi-Brücke gesprengt. In einem Jahr soll die Brücke wieder aufgebaut sein, hieß es kurz nach dem Unglück. Daraus ist nichts geworden.

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