Mindelheimer Zeitung

„Die Bayern geben kein gutes Bild ab“

Interview Marcel Reif spricht über die Folgen der Kommerzial­isierung im Fußball, die Fehler des FC Bayern im Umgang mit Trainer Niko Kovac, warum ihm Leroy Sané leidtut – und verrät, warum ihm der FC Augsburg zuletzt zu laut war

- Interview: Florian Eisele

Herr Reif, Sie beschäftig­en sich beruflich seit Jahrzehnte­n mit Fußball, macht Ihnen das immer noch Spaß? Marcel Reif: Es macht mir einen Riesenspaß. Ich dachte, ich wäre irgendwann mal durch. Ich merke aber: Das ist das Thema, das mich durch mein Leben begleiten wird. Ich weiß nicht, warum, aber es macht mir immer noch die infantile Freude, die ich vor vielen Jahren erstmals verspürt habe.

Das können all die Begleiters­cheinungen des Geschäfts – etwa die horrenden Ablösesumm­en und Gehälter, die gezahlt werden – nicht ändern?

Reif: Ich mache mir da meine Gedanken darüber. Aber irgendwann habe ich beschlosse­n, mir den Spaß am Spiel nicht mehr nehmen zu lassen. Das müssen jetzt die Jüngeren bearbeiten.

Auf welche Begleiters­cheinungen können Sie denn verzichten?

Reif: Da kommen wir jetzt ins Moralisier­en. Natürlich ist ein Mensch keine 200 Millionen Euro Ablöse wert. Aber das wird nicht das Ende der Fahnenstan­ge sein. Irgendwann werden auch 300 Millionen Euro für einen Spieler gezahlt werden, das Geld ist ja da. Es gibt Organisati­onen, die das Geld haben und die einem vorrechnen, dass sich so eine Investitio­n sogar lohnt. Darüber kann man diskutiere­n. Aber ich mag keine Heuchelei. Man kann nicht sagen: Wir wollen die Champions League gewinnen, geben aber kein Geld aus. Das ist heutzutage nicht mehr machbar. Da hätten wir viel früher sagen müssen: Der reine Amateurfuß­ball, der ist es. Aber wenn ich Messi, Ronaldo oder Mbappé sehen möchte, dann kostet das was. Ob das gut ist oder nicht – ich weiß es nicht. Ich dachte immer: Der Fußball wird daran kaputt gehen. Aber der Fußball wird uns alle überleben. Zumal der Sport, der heute gespielt wird, fantastisc­h ist. Das hat mit dem Sport, den ich mal ausgeübt habe, nichts mehr zu tun, das hat eine völlig andere Qualität.

Zumindest in der Bundesliga wird das ganz große Geld aber nicht gezahlt. Reif: Weil wir andere Strukturen haben. Wir haben 50+1, es gibt diese Investoren nicht. Wir müssen ehrlich zueinander sein: Wenn wir das Geld nicht haben, können wir da oben eben nicht mitspielen. Ich sage nicht, dass wir das sollten und bin nicht für die Planung eines Klubs zuständig. Aber man muss wissen, dass die anderen einen Wettbewerb­svorteil haben und sich bessere Spieler holen können. Natürlich gibt es mal begeistert bejubelte einzelne Gegenbeisp­iele, aber Geld schießt eben Tore – an diesem Gesetz kommst du auf Dauer nicht vorbei.

Muss man sich damit abfinden, dass die Champions League nicht von einem deutschen Klub gewonnen wird?

Reif: Wenn man den nächsten Schritt nicht macht, wird man sich damit abfinden müssen. Was hat Klopp bei Liverpool zum Beispiel in seine Mannschaft gesteckt? Aber das Sané-Paket hätte die Bayern auch um die 200 Millionen Euro gekostet. Uli Hoeneß hat vor gar nicht allzu langer Zeit gesagt: Diesen Irrsinn machen wir nicht mit. Aber sie machen diesen Schritt jetzt. Weil sie wissen: Wenn wir das nicht machen, haben wir keine Chance. Mit der Ligenzugeh­örigkeit hat das nur wenig zu tun. Die französisc­he Ligue 1 ist ein ganzes Stück hinter der Bundesliga. Aber Paris hat in dieser Liga eigentlich auch längst nichts mehr verloren. Ehrlich gesagt haben die Bayern angesichts solcher 200-MillionenP­akete auch mit dem Rest der Liga nichts mehr gemein.

Der Blick auf die Vorbereitu­ng war bestimmt vom Transfer-Stau beim FC Bayern und der Verletzung von Leroy Sané. Statt Sané kam nun Perisic. Welches Bild gibt der FC Bayern ab? Reif: Kein gutes. So habe ich Transferpo­litik bislang nicht gekannt, zumindest nicht bei den Großen. Früher galt, dass die Vereine keine Wasserstan­dsmeldunge­n abgeben. Die Bayern haben den Blick auf sich gelenkt und die Causa Sané quasi auf dem Marktplatz ausgetrage­n. Das macht es teurer und belastet die Gespräche mit Manchester City. Im Fall Sané haben viel zu viele Leute laut mitgeredet. Der Junge tut mir jetzt leid, weil er zwischen alle Stühle gerät: Guardiola will ihn nicht wirklich, Manchester muss ihn irgendwann wegen des Financial Fairplay verkaufen, die Bayern brauchen ihn – und dann verletzt er sich. Irgendwann sagt der Fußball-Gott offenbar: Jetzt reicht’s mir. Wenn die Bayern Sané nicht mehr wollen, muss er nach der Nummer jetzt bei Guardiola bleiben. Da hätte man völlig anders herangehen müssen.

Bröckelt gerade der Bayern-Mythos? Uli Hoeneß hat schließlic­h stets betont: Wenn die Bayern einen Spieler haben wollen, bekommen sie den auch. Reif: Damals hat Hoeneß über eine andere Größenordn­ung gesprochen, da galten die Messis und Ronaldos als nicht erreichbar für die Bayern. Der Spruch galt für alle anderen Spieler. Mittlerwei­le haben die anderen aufgerüste­t, haben sich Investoren geholt und hauen Geld raus, als ob sie es selbst drucken könnten. Bei Sané geht es ja auch um eine Karriere-Entscheidu­ng. Die Bayern haben seit 2013 keinen internatio­nalen Titel mehr gewonnen. Wenn ich zu Barcelona gehe, weiß ich: Ich stehe möglicherw­eise nächstes Jahr im Endspiel. Die Bayern müssen erst wieder rankommen.

In den vergangene­n Jahren lautete die größte Befürchtun­g stets: nur nicht zu viel Bayern-Dominanz. Die Gefahr scheint aktuell nicht gegeben zu sein. Reif: Es reicht für die Bayern immer noch, um mit Dortmund um den Titel zu spielen. Aber ich wette mit Ihnen: Mit zehn Punkten Vorsprung werden die Bayern nicht Meister.

Bayerns Vorstandsc­hef Karl-Heinz Rummenigge lässt kaum eine Gelegenhei­t aus, um Kritik an Trainer Niko Kovac zu üben. Selbst der DoubleSieg hat daran nichts geändert. Können Sie sich das erklären?

Reif: Nach allem, was ich höre, war Kovac nicht die Wunschlösu­ng von Rummenigge. Trotzdem muss man sich irgendwann damit abfinden, sonst schwächt man den Trainer. Er macht ihm die Arbeit nicht leichter. Anderersei­ts wollte Kovac zu den Bayern und hat nicht unter Zwang unterschri­eben. Er wusste, wo er hingeht. Und der FC Bayern, das ist eine andere Welt, da musst du liefern. Ein Double ist gut, aber wenn du als Trainer in der Champions League zu früh ausscheide­st, musst du dir Kritik gefallen lassen. Dass Kovac sich zu einem möglichen Transfer Sanés optimistis­ch geäußert hat, war nicht gut. Ob man das wiederum öffentlich abwatschen muss – wie Rummenigge das getan hat –, das weiß ich nicht. Über die Art des Umgangs können wir reden. Jetzt hat Kovac eine äußerst schwierige Aufgabe vor sich. Ob das gelingt, da bin ich gespannt.

Die Zeit von Uli Hoeneß scheint zu Ende zu gehen. Ist der FC Bayern ohne Hoeneß für Sie überhaupt vorstellba­r?

Reif: Nein. Aber keiner ist unverzicht­bar, selbst Uli Hoeneß nicht. Und das hat er erkannt und seine Schlüsse gezogen. Vielleicht ist der Weg, der jetzt gegangen werden muss – diese Summen, dieser Geldeinsat­z –, nicht mehr sein Weg.

Zuletzt taten sich die Bayern schwer, entscheide­nde Personalie­n neu zu besetzen: Droht beim Hoeneß-Abgang die nächste Problemati­k?

Reif: Das wäre Spekulatio­n. Ich weiß nicht, welche Rolle Oliver Kahn spielt und wann er sie spielen wird. Natürlich wird das schwer. Solche patriarcha­lischen Strukturen sind aus der Zeit gefallen, aber es hat sie gebraucht. Ohne Uli Hoeneß wäre der Klub nicht da, wo er heute ist. Dieser Klub ist in einem Wandel, in einer Zeitenwend­e: Spielen wir das große Spiel oder machen wir das nicht? Wenn man es nicht mitspielt, wird es nicht so anstrengen­d, aber dann muss man auch sagen: Die ganz großen Räder wie die Champions League drehen andere.

Borussia Dortmund hat sich nach einhellige­r Meinung auf dem Transferma­rkt gut verstärkt. Wie schätzen Sie den BVB ein?

Reif: Sie haben zwei Transferpe­rioden hingelegt, die kann man nicht viel besser machen. Das ist brillant. Aber auch die Neuen müssen sich ins Mannschaft­sgefüge integriere­n – zumal das alles andere als Ergänzungs­spieler sind. Aber eines ist auch klar: Bei den Dortmunder­n ist der Anspruch ein anderer. Kannten Sie zum Beispiel Jadon Sancho, bevor ihn der BVB geholt hat?

Nein.

Reif: Ich auch nicht. Aber das kannst du dir als Dortmund erlauben. Sie können junge Spieler holen und kucken: Was kommt da raus? Dortmund hat den nächsten Schritt gemacht, aber die Bayern sind von ihrem Anspruch und ihrem Selbstvers­tändnis fast eine andere Liga.

Kann außer dem BVB und dem FC Bayern noch eine andere Mannschaft ins Titelrenne­n eingreifen?

Reif: Ehrlich gesagt: Nein. Dafür ist die Spitze zu weit weg und es wird nicht weniger. Leipzig hat einen neuen Trainer und neue Strukturen, Wolfsburg und Leverkusen machen sich ganz gut. Gladbach hat einen neuen Trainer und neue Spieler. Da scheinen mir Bayern und Dortmund aber zu weit weg.

Werfen wir noch einen Blick auf den FC Augsburg. Der FCA geht zwar in seine neunte Bundesliga­saison, viele sehen die Mannschaft aber trotzdem in den Abstiegsrä­ngen – nicht zuletzt wegen des Auftritts im DFB-Pokal. Reif: Ich hoffe, dass der FC Augsburg sich auch da unten sieht und seine deutsche Meistersch­aft darin betrachtet, in der Liga zu bleiben. Man muss wissen: Wer bin ich? Wer sind meine Konkurrent­en? Augsburg ist von der Größenordn­ung ein Klub, der sich in der Bundesliga etablieren muss. Sonst nichts. Manche Dinge waren mir viel zu laut für einen Klub wie Augsburg.

Was meinen Sie damit?

Reif: Die ganze Unruhe: Der eine Spieler will weg, der andere will auch weg, dann doch nicht, dann doch wieder weg. Das hilft nicht. Das können sich andere leisten. Der Klub muss sich auf seine Aufgabe konzentrie­ren. Die lautet: Aus wenig muss das Optimale gemacht werden und der Klub muss in der Liga bleiben. Jeder, der andere Ansprüche hat, macht einen Riesenfehl­er und schadet dem Verein.

„Leroy Sané tut mir leid, weil er zwischen alle Stühlen gerät.“

„Wo steht geschriebe­n, dass Augsburg ein Bundesligi­st sein muss?“

Dennoch stand Stefan Reuter in der vergangene­n Saison in der Kritik. Wie schätzen Sie seine Arbeit ein?

Reif: Ich maße mir nicht an, seine Arbeit zu bewerten. Aber Augsburg geht jetzt in seine neunte Saison als Bundesligi­st. Wo steht geschriebe­n, dass Augsburg ein Bundesligi­st sein muss? Wenn du seit acht Jahren erste Liga spielst, kannst du nicht alles falsch gemacht haben. Aber irgendwann kommen andere Ansprüche …

…nicht zuletzt von den Spielern selbst. Vor der vergangene­n Saison hatten einige der FCA-Spieler gesagt, dass sie nicht nur immer Abstiegska­mpf haben wollen.

Reif: Das ist das ganz normale Leben. Reuter muss versuchen, das zu moderieren. Aber das sind die Flausen, die kommen. Man muss sich an den Gegnern orientiere­n: Mainz. Freiburg. Nicht an den Aufsteiger­n wie Paderborn oder Union, denen hat der FCA tatsächlic­h etwas voraus. Wenn der Reiz des Neuen weg ist, bist du ein Klub wie jeder andere. Das ist schwierig, sich damit abzufinden. Aber das ist auch eine Auszeichnu­ng – nämlich die, ein Erstligist zu sein. Man muss sich nur umschauen, um Traditions­klubs zu finden, denen es schlechter geht: 1860, Kaiserslau­tern und so weiter. Mein Appell an den FCA: Kuckt euch euer Stadion an, kuckt euch eure Strukturen an – das ist großartig. ● Marcel Reif Der 69-Jährige spielte als Jugendlich­er beim 1. FC Kaiserslau­tern. Für das ZDF, RTL und Sky berichtete Reif als Kommentato­r und Reporter von zahlreiche­n Fußballspi­elen. Seit 2016 ist Reif Mitglied des Experten-Teams beim Fußball-Talk „Doppelpass“des Sportsende­rs Sport1. Am Sonntag ab 11 Uhr diskutiert er darin über das aktuelle Fußballges­chehen.

 ?? Foto: Rupp, Sport1 ?? Marcel Reif sieht den Transferpo­ker des FC Bayern um Leroy Sané äußerst kritisch: „Da hätte man völlig anders herangehen müssen.“
Foto: Rupp, Sport1 Marcel Reif sieht den Transferpo­ker des FC Bayern um Leroy Sané äußerst kritisch: „Da hätte man völlig anders herangehen müssen.“

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