„Bereiten uns auf ersten Homeoffice-Streik vor“
Interview Frank Werneke ist Chef der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. In Corona-Zeiten geht die Organisation neue Wege. Auch der 1. Mai wird anders gefeiert. Wie Arbeitnehmer trotzdem mit roten Fahnen und Nelken protestieren können
Werneke, haben Sie eine Maske? Frank Werneke: Ich habe eine der sogenannten Alltagsmasken bei mir, für den Fall, dass ich das Mindestabstandsgebot von 1,50 Meter einmal nicht exakt einhalten kann. Ich benutze sie deshalb in Geschäften.
Der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff hat sich ja dafür ausgesprochen, das Händeschütteln auch nach Corona sein zu lassen. Wie wollen Sie das handhaben?
Werneke: Ich bin schon oft privat in Asien gewesen. Dort ist es üblich, sich nicht die Hände zu schütteln und sich anders zu begrüßen – auch so kann Zuneigung zum Ausdruck gebracht werden. In unserem Kulturkreis gehören das Händeschütteln und auch die physische Kontaktaufnahme zu Menschen, die einem wichtig sind, bislang dazu. Mich würde es freuen, wenn der Handschlag auch in Zukunft für uns möglich bleibt.
Was macht Verdi am 1. Mai, dem Tag der Arbeit? Wie demonstriert eine Gewerkschaft in Zeiten sozialer Zwangsdistanz?
Werneke: Für den 1. Mai hat der Deutsche Gewerkschaftsbund nach Abstimmung mit Verdi und den anderen Einzelgewerkschaften alle Großveranstaltungen abgesagt. Wir werden also keine Präsenzdemonstration, sondern eine Online-Demonstration von 10.30 Uhr ab veranstalten. Normalerweise nimmt an den Demonstrationen am 1. Mai ungefähr eine halbe Million Menschen teil. In diesem Jahr verbietet das Ziel, Menschenleben zu retten, solche Großveranstaltungen.
Wie geht das denn? Sitzen dann Gewerkschafter mit roter Nelke und roter Fahne alleine zu Hause vor dem Bildschirm?
Werneke (lacht): Sich mit einer roten Fahne und Nelke vor den Bildschirm – oder vor die Tür zu setzen –, ist hochwillkommen. Und es ist auch erlaubt, sich ein Bier aufzumachen. Auf alle Fälle finden alle dann über einen Link auf der DGBHomepage Zugang zur digitalen Mai-Kundgebung mit Statements und Videos von Mitgliedern. Auch Musik gibt es. Ich bin aber froh, wenn wir dann am 1. Mai 2021 wieder mit tausenden Kolleginnen und Kollegen auf den Plätzen stehen.
Auf alle Fälle sind Warnstreiks mit mehreren hundert Leuten Corona-bedingt nicht möglich. Schmälert das die Schlagkraft von Gewerkschaften? Werneke: Wir haben in den vergangenen Wochen sogar sehr viele Tarifverträge abgeschlossen. Es ist in vielen Branchen und Unternehmen gelungen, das Kurzarbeitergeld von 60 Prozent und 67 Prozent für Arbeitnehmer mit Kindern aufzustocken. Und das auf mindestens 80 Prozent, in einigen Fällen sogar auf 90 bis 100 Prozent. Das ist nicht so lückenlos gelungen, wie ich mir das im optimalen Sinne gewünscht habe. Aber dennoch, wir haben das ohne Streiks, aber mit der Autorität einer Gewerkschaft von zwei Millionen Mitgliedern in Videokonferenzen und Telefonschalten hinbekommen. Für die nächsten Tage müssen wir leider auch Vorbereitungen für den ersten Homeoffice-Streik von Verdi treffen.
Das klingt interessant.
Werneke: Ich kann leider den Namen des Unternehmens noch nicht nennen. Nur so viel: Ein Finanzdienstleister will die Krise ausnutzen, um Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern. Wenn das Unternehmen nicht einlenkt, werden die Beschäftigten auch im Homeoffice die Arbeit niederlegen und die Laptops zuklappen.
Sie fordern auch ein Einlenken der Bundesregierung, was eine finanzielle Nachbesserung der KurzarbeiterregeHerr lung gerade für Bezieher kleinerer Einkommen betrifft. Hier beißen Sie aber innerhalb der CDU/CSU-Bundestagsfraktion noch auf Granit. Werneke: Viele Unternehmen etwa aus dem Handels- oder Tourismusbereich sind erstmals von Kurzarbeit betroffen. Dort gibt es keine bestehenden tarifvertraglichen Regelungen. Gerade Bezieher kleinerer Einkommen – und hier vor allem Frauen und Teilzeitbeschäftigte – trifft das besonders hart. Die müssen sich dann mit 60 Prozent ihres Nettoeinkommens begnügen, was für viele Betroffene hinten und vorne nicht reicht. Die Betriebe bekommen hingegen 100 Prozent Lohnersatz. Das ist eine krasse Ungerechtigkeit. Deswegen bleiben wir hart und halten an unserer Forderung an die Bundesregierung fest, das Kurzarbeitergeld aufzustocken. Am besten durch eine Vorgabe an die Arbeitgeber, andernfalls durch eine gesetzliche Erhöhung.
Ist die Lage für viele Beschäftigte wirklich so ernst?
Werneke: Sehr ernst. Pro Tag rufen uns mehrere tausend Mitglieder an, die uns um Unterstützung bitten. Hinzu kommen tausende E-Mails.
Da ist die Not für mich zu greifen. Nehmen Sie nur die Gastronomie sowie Friseurinnen und Friseure: Da sind Trinkgelder für die Beschäftigten extrem wichtig, um überhaupt über die Runden zu kommen. Und diese Trinkgelder gibt es ja nun nicht mehr. Hier besteht die Gefahr, dass Menschen millionenfach in das Hartz-IV-System reinrutschen. Grade aus dem Friseurbereich erreichen uns alarmierende Meldungen von Verdi-Mitgliedern. Da werden zum Teil Auszubildende sogar in Kurzarbeit geschickt. Es ist nicht zu akzeptieren, dass Adidas vier Milliarden Euro an Staatsgeld einstreicht und gleichzeitig Friseurinnen und Friseure nicht mal das Kurzarbeitergeld aufgestockt bekommen, um auf das Existenzminimum zu kommen. Das ist krass ungerecht.
Doch CDU- und CSU-Verantwortliche scheint das nicht zu beeindrucken. Werneke: In der Tat herrscht hier in der Unions-Bundestagsfraktion eine Hartherzigkeit, die aus meiner Sicht mit dem christlichen Menschenbild nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Zumindest unterstützt die SPD-Bundestagsfraktion unsere Vorstellungen. Wir werden nicht lockerlassen. Der Bundestag tagt ja in der kommenden Woche. Da haben die CDU- und CSU-Abgeordneten die Chance, gerade den von Kurzarbeit betroffenen Geringverdienerinnen und Geringverdienern mehr Gerechtigkeit zukommen zu lassen.
Doch wie soll Deutschland diese Unsummen an Kurzarbeitergeld finanzieren? Die Bundesagentur für Arbeit verfügt zwar über ein Finanzpolster von rund 26 Milliarden Euro, aber schon etwa 725000 Betriebe haben Kurzarbeit angemeldet. Das könnte eng werden.
Werneke: Diese rund 26 Milliarden Euro wurden von den Beitragszahlern finanziert. Das ist kein Steueroder Gottesgeschenk. Ehe wir jetzt diskutieren, wer wann was bezahlt, sollten wir zuerst einmal in einigen Wochen einen Strich unter die Corona-Rechnung ziehen. Ich halte es jedenfalls für absolut verkraftbar, mit einer höheren Staatsverschuldung zu leben, als uns jetzt schon über die Tilgung aller staatlichen CoronaDarlehen den Kopf zu zerbrechen. Die in der Verfassung verankerte Schuldenbremse hat sich für diese Generation ohnehin erledigt. Ich vermisse die Schuldenbremse überhaupt nicht.
Viele Bürger werden skeptischer, was die wirtschaftliche Entwicklung betrifft. Kommt das dicke Ende im nächsten Jahr?
Werneke: Ich gehe davon aus, dass es nicht nur bei Kurzarbeit bleibt, sondern leider auch im höheren Maße zu Entlassungen kommt. Die Zahl der Kündigungen steigt aktuell schon an. Positiv ist: Ein Ende des Shutdown, also des Herunterfahrens der Wirtschaft, ist erkennbar.
Finanzminister Scholz hat nun eine Gerechtigkeitsdebatte angestoßen. Was muss sich nach Corona ändern? Werneke: Wir brauchen eine gerechtere Finanzverteilung in Deutschland. Wichtig ist dabei die Einführung einer Vermögenssteuer. Wir müssen mehr Tarifverträge als den besten Schutz für gerechte Bezahlung durchsetzen. Ergänzend dazu brauchen wir eine deutliche Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns. Dabei mache ich mir keine Illusionen. Wir werden auf harten Widerstand stoßen. Denn der Neoliberalismus ist bislang leider noch nicht an Corona erkrankt.
Frank Werneke, 53, ist in Schloss Holte-Stukenbrock bei Bielefeld geboren. Seit 2019 ist er als Nachfolger von Frank Bsirske Chef der Dienstleistungs-Gewerkschaft Verdi.