Das Ende meiner Freiheit
Peter Debray, Sonthofen
Ich war Ende Januar 1945 gerade vier Jahre alt geworden, da floh meine Mutter mit mir vor den rasch näher rückenden Russen aus Liegnitz. Es begleiteten uns die Eltern meiner Mutter und ihre Schwester. Mein Vater war irgendwo an der Ostfront. Nach einigen Wochen und vielen Hindernissen kamen wir schließlich in Ofterschwang an und wurden beim ärmsten Bauern des Ortes, unterhalb der Hauptstraße, zu fünft in einem Zimmer einquartiert.
Als Kind bekam man lange im Dorf nicht viel mit, aber der Krieg rückte auch hier näher und ich spürte die Angst der Erwachsenen.
Eines Tages schleppten mich meine Mutter und meine Großmutter hinunter nach Sonthofen. Ich hasste diesen Weg über den steilen Schweineberg, vorbei am Krankenhaus und hinein in „die Stadt“, die ja nur ein Markt war. Endlich gab es auf die Bezugscheine diesmal die heiß ersehnten Kinderschuhe, denn die alten waren viel zu klein und abgelaufen. Die Auswahl war gering und erstreckte sich auf zwei Paar. Ich bekam schließlich die, die weniger drückten.
Plötzlich heulten die Sirenen los und wollten nicht mehr enden. Fliegeralarm! Passanten zeigten uns einen schmalen Eingang, der tief in den Kalvarienberg hineinführte. Ein- oder Ausgänge gab es zur Sicherheit mehrere. Im Berg war es schmal und eng, die Luft stickig. Innen saßen schon viele Leute eng aneinandergedrückt und sehr still auf einfachen Holzbrettern. Wenige, spärliche Glühlampen flackerten und gingen immer wieder an und aus. Im Dunkel war es unheimlich. Ich hatte fürchterliche Angst. Die Luft wurde immer heißer und das Atmen wurde schwerer. Gut, dass ich mich an Mutter und Großmutter drücken konnte. Nach ungefähr einer Stunde heulten die Sirenen erneut: Ende des Alarms, Entwarnung. Erleichtert atmeten wir nun frische Luft und gingen schnell zurück in unser stilles und ruhiges Ofterschwang.
Große Angst hatte ich vor den Tieffliegern, die häufig, meist einzeln, auch über Ofterschwang zu sehen waren. Sie flogen extrem tief und feuerten auf alles, was sich bewegte. Mutter schärfte mir ein, sofort, falls ich ein Flugzeug erblickte, mich regungslos unter einem Baum zu verstecken. Meistens tauchten die Flieger urplötzlich hinter einem der Hügel auf. Mit laut aufheulendem Motor zog der Pilot die Maschine in steilen Kurven wieder nach oben und verschwand zum Glück meist schnell in der Landschaft.
An einem warmen wunderschönen Tag, es war der 8. Mai 1945, ein Dienstag, verkündete meine Mutter mittags freudestrahlend: „Endlich ist der verdammte Krieg zu Ende, jetzt wird alles besser!“Mir war das gar nicht recht, denn das bedeutete das Ende meiner wunderbaren Freiheit im Dorf und dass wir wohl bald wieder von hier fortgingen. Für mich war es ganz unverständlich, dass mir Mutter nun verbot, an meinen geliebten Bächen, dem Mühl- und dem Geißkopfbach, zu spielen. Dort war es plötzlich über Nacht sehr gefährlich geworden. Etliche Einwohner hatten sich nämlich dort ihrer verbotenen Waffen, Gewehre, Pistolen und Munition entledigt.
Am nächsten Mittag, Mutter und Tante waren beim Wäscheaufhängen vor dem Haus, rief der Großvater plötzlich aus einem der Fenster: „Sofort alle rein, Soldaten kommen!“Die Frauen rafften die Wäsche zusammen, einiges blieb hängen und sie stürzten ins Haus, meine Tante zog mich hinter sich her. Großvater verrammelte die Türen von innen mit vorbereiteten Balken. Er stand abwartend da, mit einem Beil, das ihm der arme Hausherr geliehen hatte. Er musste ja notfalls drei Frauen verteidigen! Großmutter hielt eine Kuhglocke bereit, um mit ihr die etwas entfernten Nachbarn zu alarmieren. Da kamen sie auch schon, Soldaten, geordnet, einer nach dem anderen und sehr diszipliniert, vom Bach herauf. Sie trugen Gepäck auf dem Rücken und Gewehre. Es waren zwanzig oder dreißig oder auch mehr und sie zogen ruhig und stumm, ohne die Wäsche oder das Haus zu beachten, weiter hinauf ins Dorf. Ich lugte hinter den Gardinen des kleinen Fensters hinterher, aber man verbot mir das: „Lass das, es kommen sicher noch mehr, wenn sie uns entdecken, dann…!“Es kamen aber keine mehr.
Gerüchte kamen auf: Unten an der Illerbrücke stünden französische Posten, die den Frauen den Schmuck abnehmen und ihnen, wenn sie ihn nicht freiwillig abgeben, die Finger abhackten. Dann erzählten die Bewohner, dass die Ordensburg offen sei und man sich dort alles holen könne. Die Erwachsenen überlegten, wie man denn dorthin kommen und gar etwas abtransportieren könne. Es konnte ja alles gebraucht werden! Großvater warnte aber und meinte: „Das ist Plünderung, das kommt nicht infrage!“Womit er sicher recht hatte. Und die Erwachsenen hofften, schon in wenigen Tagen wieder in die Heimat zurück zu können. Daraus wurde freilich nichts, bis heute.