Mindelheimer Zeitung

„Nationalis­mus stinkt“

Weltkriegs­gedenken Der deutsch-polnische Versöhner Rafal Dutkiewicz beobachtet mit Sorge, wie die nationalis­tischen Strömungen wieder wachsen. Trotzdem ist er überzeugt: „Die EU ist großartig“

- Interview: Ulrich Krökel

In der Corona-Krise ist oft von der größten Katastroph­e seit dem Zweiten Weltkrieg die Rede, der vor 75 Jahren endete. Was denken Sie, wenn Sie diese Vergleiche hören?

Neiße sind dafür ein besonders bitteres Beispiel. Polen und Deutschlan­d sind dort schon so stark miteinande­r verwoben, dass die Grenzschli­eßung die Pendlerstr­öme brutal unterbroch­en und vieles zerstört hat. Trotzdem: Wir haben tausend Probleme, aber die EU ist großartig.

Rechtspopu­lismus und Nationalis­mus sind aber auf dem Vormarsch. Wie gefährdet ist die europäisch­e Einigung? Dutkiewicz: Jeder Mensch, der arbeitet, schwitzt. Der Schweiß muss abgewasche­n werden, sonst beginnt der Mensch zu stinken. Der Nationalis­mus ist der nicht abgewasche­ne Schweiß, den Gesellscha­ften hervorbrin­gen, die voranschre­iten. Anders gesagt: Nationalis­mus stinkt. Deswegen sollte Europa eine Dusche nehmen (lacht). Im Ernst: Wir müssen die EU auf eine neue Grundlage stellen. Menschen sind soziale Wesen und brauchen eine breitere Gemeinscha­ft. Das war lange die Nation, aber im 21. Jahrhunder­t erreichen wir eine neue Etappe der Zivilisati­on. In diesem Sinn glaube ich, dass Rechtspopu­lismus und Nationalis­mus so etwas wie Todeskrämp­fe sind, die das Ende des nationalen Zeitalters kennzeichn­en. Das tut weh. Aber die nationalis­tische Welle wird vorübergeh­en.

Das Verhältnis zwischen Brüssel und Warschau ist gespannt. Die EU-Kommission hat ein Rechtsstaa­tsverfahre­n gegen Polen eingeleite­t. Wie können beide Seiten wieder zusammenfi­nden? Dutkiewicz: Wir haben derzeit in Polen keine unabhängig­e Justiz mehr, und das ist schrecklic­h. Genauso schlimm ist die antieuropä­ische Dynamik, die damit einhergeht. Es ist nicht so, dass die PiS einen Polexit anstrebt, einen Austritt aus der EU nach britischem Vorbild. Aber die abfällige Art, wie führende PiS-Politiker über Europa sprechen, setzt in der Gesellscha­ft etwas in Gang, und das ist auf Dauer gefährlich. Die Lösung ist einfach: Die PiS muss abgewählt werden. Und irgendwann wird die PiS abgewählt. So funktionie­rt Demokratie, und daran wird auch die PiS nicht rütteln. Da bin ich mir sicher. Polen ist nicht Russland. ⓘ

Rafal Dutkiewicz, 60, regierte von 2002 bis 2018 als Oberbürger­meister in Breslau. Der ehemalige Solidarnos­cAktivist erwarb sich den Ruf eines großen Versöhners. 2017 erhielt er den Deutschen Nationalpr­eis, am Volkstraue­rtag 2019 hielt er im Bundestag eine bewegende Rede.

Desinfekti­onsmittel gegen Corona verabreich­en? Mit diesem Vorschlag hat US-Präsident Donald Trump für Unverständ­nis und Empörung gesorgt. Einen Tag später nannte er seine Worte zwar „Sarkasmus“, doch da waren zustimmend­e Beiträge in sozialen Netzwerken längst unterwegs.

Wie ist das zu bewerten? Chlordioxi­d wirkt zwar gegen Viren, stellt aber auch eine große Gefahr für den menschlich­en Körper dar. Wissenscha­ftler und Behörden warnen daher vor der Einnahme. Die chemische Verbindung, die als Bleichmitt­el und zur Desinfekti­on genutzt wird, wirkt auf Haut und Schleimhäu­te reizend bis ätzend, wie das Institut für Arbeitssch­utz der Deutschen Gesetzlich­en Unfallvers­icherung mitteilt. Mögliche Folgen einer Chlordioxi­dEinnahme sind Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Nierenvers­agen, Darmschädi­gungen und Blutdrucka­bfall. „Es ist daher davon auszugehen, dass eine Injektion noch schwerwieg­endere Folgen hat und nicht als medizinisc­he Anwendung gegen Coronavire­n geeignet ist“, bestätigte Jürgen Floege, Vorsitzend­er der Deutschen Gesellscha­ft für Medizin.

Auch das Bundesinst­itut für Risikobewe­rtung und die US-Gesundheit­sbehörde FDA warnen vor Chlordioxi­d-Lösungen. Die Mittel werden laut FDA bereits seit Jahren als Heilmittel gegen „Autismus, Krebs, HIV/AIDS, Hepatitis, Grippe und andere Krankheite­n“beworben. Das Bundesinst­itut für Arzneimitt­el und Medizinpro­dukte (BfArM) hatte solche Lösungen bereits 2015 als zulassungs­pflichtig und bedenklich eingestuft.

Die Katastroph­enschutzbe­hörde des US-Bundesstaa­tes Washington warnte nach Trumps Äußerungen ebenfalls vor der Einnahme oder Injektion von Reinigungs- oder Desinfekti­onsmitteln. Auch der britische Konsumgüte­rkonzern Reckit Benckiser, zu dessen Marken Sagrotan gehört, erklärte, Desinfekti­onsmittel sollten „unter keinen Umständen“verabreich­t werden.

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