Ein Urteil erschüttert Europas Justiz-Architektur
Verfassungsgericht Mit ihrer Entscheidung zu Anleihenkäufen haben sich die Richter gegen das höchste EU-Gericht gestellt
Karlsruhe/Brüssel Von einer „Atombombe“, die das Bundesverfassungsgericht gezündet habe, spricht der Europarechtler Franz Mayer. Mit ihrem Urteil zu den milliardenschweren Staatsanleihenkäufen der Europäischen Zentralbank (EZB) haben sich die Karlsruher Richter zum ersten Mal über eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hinweggesetzt – und damit Schockwellen in Europa ausgesendet. Bröckelt nun die Autorität des höchsten EU-Gerichts – in einer Zeit, in der die Europäische Union ohnehin zunehmend mit Nationalismus zu kämpfen hat?
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ist alarmiert, sogar ein Vertragsverletzungsverfahren gegen ihr Heimatland schließt sie nun nicht mehr aus. Die deutschen Richter dürften das Beben vorhergesehen haben. Das Urteil könne „auf den ersten Blick irritierend wirken“, schickt Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle am 5. Mai der
Verkündung voraus. Dem Senat sei bewusst, „dass Entscheidungen des EuGH nur in absoluten Ausnahmefällen die Gefolgschaft versagt bleiben darf“. Der Konflikt liegt in der Natur der Sache: Auf der einen Seite das mächtige Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, das über die deutschen Grundrechte wacht. Auf der anderen Seite das oberste EUGericht in Luxemburg, das die europäischen Verträge auslegt und damit die Union zusammenhält.
In der Tendenz hat sich Karlsruhe seit den 1970er Jahren mehr und mehr zurückgenommen. Mit zwei Ausnahmen: Die Richter behalten sich vor, einzugreifen, wenn sie den innersten Kern des Grundgesetzes verletzt sehen. Und wenn ein EU-Organ sich Kompetenzen herausnimmt, die ihm der Bundestag als Vertretung der Wähler nie übertragen hat. Den zweiten Punkt stellt die EZB mit ihrem umstrittenen Anti-Krisen-Kurs seit Jahren hart auf die Probe. 2014 unterZeit. breiten die deutschen Richter ihre Bedenken zum ersten Mal dem EuGH. Der gibt der EZB grünes Licht. 2017 – inzwischen hat die Notenbank viele Milliarden in Staatsanleihen gesteckt – der zweite Karlsruher Vorstoß in Luxemburg. Aber der EuGH lässt sich eineinhalb Jahre Zeit und erteilt dem Kaufprogramm dann recht pauschal seinen Segen. Dass sich die deutschen Richter das nicht bieten lassen würden, war zu befürchten. Sie schieben das EuGH-Urteil als „objektiv willkürlich“und „methodisch nicht mehr vertretbar“beiseite und entscheiden im Alleingang, dass die Notenbank ihr Mandat für die Geldpolitik überspannt habe – ein beispielloser Vorgang.
Der Europarechtler Mayer von der Universität Bielefeld hält die Situation für „hochgefährlich“. Den Richterspruch aus Karlsruhe sieht er als Angriff auf die EuGH-Kollegen. Diese lassen sich mit einer inhaltlichen Reaktion mehrere Tage Am Freitag werden sie dann aber ungewöhnlich deutlich. Grundsätzlich gelte zwar: „Die Dienststellen des Gerichtshofs kommentieren Urteile nationaler Gerichte nicht.“„Ganz generell“stellt der EuGH aber unmissverständlich klar, dass derlei Urteile das Justizsystem
der EU gefährdeten. Eine Vorabentscheidung sei für das nationale Gericht bindend.
Dass die Handlung eines EU-Organs – in diesem Fall die EZB – gegen EU-Recht verstoße, dürfe nur der EuGH feststellen. Andernfalls seien die Einheit des EU-Rechts und die Rechtssicherheit in Gefahr. Für den Europarechtler Mayer ist der Schaden längst angerichtet. „In Polen knallen die Korken“, sagt er. In dem Land baut die nationalkonservative PiS-Regierung das Justizwesen seit Jahren um. Der EuGH schritt mehrfach ein und befand, dass Teile der Reformen gegen EURecht verstießen. Durch das deutsche Urteil fühle die PiS sich natürlich bestätigt, sagt Mayer. „Die können ihr Glück kaum fassen.“Die Regierung werde künftig auf das Bundesverfassungsgericht verweisen und behaupten, EuGH-Urteile seien nicht bindend.
Anja Semmelroch und
Michel Winde, dpa