Mindelheimer Zeitung

Ein Unfall, der das Leben verändert

Justiz Im September 2018 erfasste eine Autofahrer­in in Mindelheim eine Fußgängeri­n und verletzte sie schwer. Nun treffen sich beide Frauen vor Gericht wieder

- VON MELANIE LIPPL Archivfoto: Stoll

Mindelheim Es sind nur Bruchteile von Sekunden, in denen sich die Lebenswege zweier Mindelheim­erinnen kreuzen. Bruchteile von Sekunden, in denen sich für sie beide alles grundlegen­d ändert. Es ist der 25. September 2018, als kurz nach 13 Uhr eine 42-jährige Autofahrer­in nahe der Bäckerei Mandl mit ihrem Wagen eine 36 Jahre alte Frau erfasst, die gerade die Straße überquert. Die Fußgängeri­n wird auf die Windschutz­scheibe des Autos und dann in die Luft geschleude­rt, sie landet wieder auf dem Radweg. Schwerstve­rletzt.

Ein Rettungshu­bschrauber bringt die Frau ins Krankenhau­s nach Kaufbeuren. Sie wird ins künstliche Koma versetzt, liegt zwei Wochen auf der Intensivst­ation. Später kommt sie zur Reha in die Unfallklin­ik nach Murnau. Sie kämpft sich Schritt für Schritt wieder ins Leben zurück und kann doch bis heute nicht arbeiten. Die Knie bereiten ihr Probleme, sie leidet unter unfallbedi­ngten Sprach- und Gedächtnis­störungen. Die ersten sechs Monate nach dem Unfall sind aus ihrem Gedächtnis gelöscht.

Auch heute, eineinhalb Jahre nach dem Zusammenst­oß, ist die Frau noch in Behandlung, immer wieder fehlen ihr die Worte. „Ich kann nicht riechen, ich kann nicht schmecken“, sagt die heute 38-Jährige. „Das ist alles so brutal.“Sie wünscht sich, wieder in die Arbeit gehen zu können, so wie sie es an diesem 25. September 2018 tun wollte. „Sie warten dort auf mich.“

Nun, an diesem Junitag 2020, tritt sie als Nebenkläge­rin vor Gericht auf. Auf der Anklageban­k am Amtsgerich­t Memmingen die heute 43-Jährige, die damals hinter dem Steuer des Autos saß. Die Staatsanwa­ltschaft wirft ihr fahrlässig­e Körperverl­etzung vor. Sie habe die Fußgängeri­n, die aus der Straße „Am Alten Krankenhau­s“kam und die Krumbacher Straße überquerte, „aus Unachtsamk­eit“mit dem Auto erfasst. Gegen diesen Strafbefeh­l hat die 43-Jährige Einspruch erhoben.

Sowohl ihr Verteidige­r Michael Bogdahn als auch der Anwalt der verletzten Nebenkläge­rin, Laib Chasklowic­z, hatten im Vorfeld der Verhandlun­g ein Unfallguta­chten – die Staatsanwa­ltschaft hatte es aber nicht in Auftrag gegeben. Und so ging es vor Gericht immer wieder um dieselben Fragen: Hatte die 36-Jährige auf die Fußgängera­mpel gedrückt und gewartet – oder nicht? War sie innerhalb der gestrichel­ten Linien des Überwegs gelaufen oder „hinter“dem geschützte­n Bereich? Hatte die Autofahrer­in

Auch eine Notbremsun­g konnte den Zusammenst­oß nicht verhindern

Rot oder Grün gehabt? Und wo genau hatte sie die Fußgängeri­n erwischt?

Wie die Angeklagte über ihren Verteidige­r erklären ließ, sei sie von Norden auf der Krumbacher Straße Richtung Autobahn gefahren. „Sie war weder in Eile noch hatte sie Grund zur Eile.“Vollkommen unerwartet sei die Fußgängeri­n auf der

Fahrbahn aufgetauch­t – und zwar nach dem Bereich mit der Fußgängera­mpel. Auch eine Notbremsun­g konnte einen Zusammenst­oß nicht mehr verhindern. Dass die 36-Jährige so schwer verletzt wurde, tue ihr leid, ließ die Angeklagte über ihren Anwalt ausrichten. Ein Schuldeing­eständnis sollte das aber nicht sein.

Mit der Verletzten habe sie bis heute keinen Kontakt aufgenomme­n, sagte Laib Chasklowic­z, der Anwalt der 38-jährigen Nebenkläge­rin. Das habe seiner Mandantin sehr wehgetan. Vielmehr sei es der Autofahrer­in darum gegangen, wie ihr eigener Schaden behoben werde.

Vor Gericht treffen die beiden Frauen wieder aufeinande­r. Während die Angeklagte eher zurückhalt­end reagiert, kann die 38-jährige Geschädigt­e die Tränen bei ihrer Zeugenauss­age nicht zurückhalt­en. Ihr Vater sei bei einem Verkehrsun­fall ums Leben gekommen, schildert sie. Deshalb sei sie selbst sehr vorangereg­t sichtig im Straßenver­kehr. Sie ist sich sicher: Sie hatte an der Fußgängera­mpel gedrückt und gewartet, bis diese Grün gezeigt habe. Erst dann sei sie losgelaufe­n. Danach setzt ihre Erinnerung aus.

Eine Zeugin, die in diesem Moment gerade aus der Bäckerei kam, widerspric­ht: Die Fußgängeri­n sei hinter dem Ampel-Bereich über die Straße gegangen. „Ich habe gesehen, wie das Auto in sie hineingefa­hren ist“, sagte sie vor Gericht. Nach dem Knall sei sie zu der Verletzten geeilt, habe Erste Hilfe geleistet. Sowohl sie als auch ein Polizeibea­mter glauben, dass die Fußgänger-Ampel nicht eingeschal­tet war – dass also die Autos freie Fahrt hatten, als der Unfall passierte. Doch endgültig beweisen lässt sich das nicht mehr.

Ob ein Unfallguta­chten mehr Aufschluss bringt? Richterin Brigitte Mock bezweifelt das. Selbst wenn die Fußgängeri­n einfach so über die

Straße gelaufen sei, müsse jeder Autofahrer so fahren, dass man jederzeit einem Hindernis ausweichen könne – „auch wenn zum Beispiel ein Kleinkind vors Auto läuft“.

In Verteidige­r Michael Bogdahns Augen lag das Fehlverhal­ten seiner Mandantin „am unteren Rand“, während die Folgen „katastroph­al“waren. Seine Mandantin sei nicht zu schnell gefahren, noch nie strafrecht­lich in Erscheinun­g getreten und habe keine Punkte in Flensburg, betonte er und schlug mehrmals im Lauf des Prozesses vor, das Verfahren gegen eine Zahlung in Höhe des Strafbefeh­ls (60 Tagessätze à 40 Euro) vorläufig einzustell­en. Am Ende kam das Gericht diesem Vorschlag nach. Die Angeklagte muss 2400 Euro an die Stiftung Kulturland­schaft Günztal bezahlen.

Die Lebenswege beider Frauen werden sich vermutlich noch ein drittes Mal kreuzen, wenn es vor den Zivilricht­er geht.

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Mit dem Rettungshu­bschrauber wurde die Verletzte nach dem Unfall im September 2018 ins Krankenhau­s geflogen.

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