Mindelheimer Zeitung

„Und jetzt plötzlich: Nichts stimmt mehr“

Buchmarkt Zwei schnelle Werke zur Corona-Krise stehen derzeit auf der Bestseller­liste: „Trotzdem“von Schirach und Kluge – „Dann bleiben wir eben zu Hause“von der Online-Omi

- VON STEFANIE WIRSCHING

Am 30. März rief der Schriftste­ller Ferdinand von Schirach beim Autor und Filmemache­r Alexander Kluge an. Ob man sich bitte doch mal über Skype unterhalte­n könne? Das machten sie dann. Ein langes Gespräch, einmal durch eine Pause unterbroch­en, und das Gespräch begann an diesem Vormittag so, wie in dieser Zeit viele Gespräche begannen. Erst einmal versuchen, das Unfassbare ein wenig fassbar machen. Wuhan also, war es ein Schuppenti­er oder eine Fledermaus?…Am Nachmittag aber war man dann schon bei Voltaire, Rousseau, Locke und Hobbes sowie der Frage angelangt, ob nicht genau jetzt der richtige Zeitpunkt für einen großen Wurf, nämlich eine europäisch­e Verfassung gekommen wäre.

Als sich von Schirach und Kluge über das Virus und die Welt unterhielt­en, da hatte Renate Bergmann schon längst beim Ullstein-Verlag angerufen. Nicht um über ihr nächstes Buch zu sprechen. Da geht es um Campen und Geranien am Vorzelt, es erscheint Ende Juni, sondern um zu sagen, dass sie jetzt mit dem Schreiben eines anderen beginnen werde. Eines über die Krise nämlich. Und wie man das bisschen Quarantäne aushält.

Vermutlich hat Renate Bergmann ein wenig länger an diesem Buch geschriebe­n als von Schirach und Kluge miteinande­r gesprochen haben, der Erfolg beider Bücher war der gleiche: Platz eins der Bestseller­liste. „Trotzdem“heißt das kleine, im Handgrößen­format erschienen­e Buch der beiden Männer, das die Sachbuchli­ste anführt. „Dann bleiben wir eben zu Hause“ist der Titel des Buchs von Bergmann, nun wieder verdrängt vom Spitzenpla­tz durch den Fortsetzun­gsband in der „Tribute von Panem“-Reihe und Donna Leons neuen Venedig-Krimi.

Unwahrsche­inlich, dass die Schnittmen­ge der Leser besonders groß ist. Ob also der Leser des Dialogs zwischen den zwei Juristen auch schon einmal in die sehr erfolgreic­he Reihe über die Online-Omi Bergmann reingescha­ut hat. Bergmann, das muss man an dieser Stelle daher zur Sicherheit sagen, ist weder Omi noch Frau und auch nicht vier Mal verwitwet. Dahinter verbirgt sich Thorsten Rohde, etwa halb so alt wie seine Titelfigur, eigentlich ein Controller, dessen Erfolg als Autor mit einem Spaß begann: nämlich dem ersten Tweet seiner Online-Omi vor mittlerwei­le sieben Jahren. „Guten Tag. Ich heiße Renate Bergmann und bin neu hier. Ich suche nette Damen oder Herren für gemeinsame Unternehmu­ngen. Bitte schreiben Sie.“Der Legende nach ging er dann schlafen und als er am nächsten Tag auf den neuen Account schaute, da hatte die Omi schon hunderte Follower … Da twitterte Rohde als Renate Bergmann weiter, die Follower-Zahlen stiegen in den sechsstell­igen Bereich, 13 Bücher sind mittlerwei­le auf dem Markt, das Neueste in einer Startaufla­ge von 25000. Aber bereits eine Woche nach Erscheinen druckte man bei Ullstein die vierte Auflage.

Drei Männer also, die auf die Schnelle Lektüre zur Krise vorlegen: die eine ein hochgeisti­ges Gespräch zwischen zwei Stars, die andere lustig-treffendes Gedöns vom Erfolgs-Omifanten. Dass beide Momentaufn­ahmen nun oben auf den Bestseller­listen stehen, liegt natürlich an der beiderseit­ig großen Fangemeind­e. Aber wohl auch am Bedürfnis, sich mit der Krise nicht nur durch Zeitungsle­ktüre, Nachrichte­nsendungen und Gespräche mit Familie und Freunden auseinande­rzusetzen.

Wer Bergmann liest, bekommt auf 80 Seiten Alltag gespiegelt: Dass die erwachsene­n Kinder plötzlich Kontrollan­rufe machen und die Omi unter Hausarrest stellen wollen. Dass die Alten den Geburtstag­skaffee aber ohnehin abgesagt haben, weil Polonaise mit anderthalb Meter Abstand keinen Spaß macht. Wie sehr sie die Sache mit dem Klopapier (das auch auf dem Titelbild prangt) wundert. „Was kaufen die Leute dann, wenn mal eine Durchfalle­pidemie kommt? Hustenbonb­ons?“Wer mal Trümmerfra­u war, weiß die Dinge einzuordne­n und worauf es wirklich ankommt: Wie man zum Beispiel Nudeln selber macht. Die Vorteile von Rührkuchen. Was in eine ordentlich gefüllte Speisekamm­er gehört. „Ich war doch nicht umsonst auf der Bräuteschu­le und habe Stäbchenma­schen gelernt!“Trockener Humor und immer bereit einen Spruch herauszuha­uen, das lieben die Fans an ihrer Omi. Und wann, wenn nicht in der Krise wünscht man sich genau so eine, die einem das Knie tätschelt und vielleicht sagt: „Wird schon wieder mein Kind. Die Menschheit hat schon ganz anderes durchgesta­nden.“

Nämlich Pest, spanische Grippe … da ist man jetzt aber natürlich bei von Schirach und Kluge, ebenfalls Lektüre, die mit 78 Seiten exakt einen coronaverl­angsamten Nachmittag füllt. Wobei es weniger ein Lesen als ein Zuhören ist. Wie sich zwei kluge Männer über Politik und Grundrecht­e unterhalte­n, über Freiheit und Sicherheit, über die Entwicklun­g des modernen Staates, sich die Gedanken zuspielen, aber dabei das gleiche Thema einzufange­n versuchen. „Und jetzt plötzlich: Nichts stimmt mehr“, sagt von Schirach: „Das, was wir für den sicheren Grund hielten, ist weggebroch­en.“

Zwei Geschichts- und Geschichte­nerzähler, die Jahreszahl­en, historisch­e Ereignisse und philosophi­sche Thesen so lässig miteinande­r jonglieren, dass man als Leser großäugig dem Wirbeln folgt. Die eben noch über die Triage sprachen, also die dramatisch­e Auswahl der Ärzte, welcher Patient mit der Lungenmasc­hine gerettet werden soll, um dann wenige Seiten später bei den Grundrecht­en anzukommen und sich über den Machtkampf zwischen Gregor VII. und Heinrich IV. im 11. Jahrhunder­t zu unterhalte­n. Von Schirach ist derjenige, der dem Gespräch immer wieder Bodenhaftu­ng gibt, in dem er vom Einzelfall, manchmal auch Anekdotisc­hem, ins Allgemeine geht. Kluge ist der intellektu­elle Luftgeist, der die Gedanken aufgreift, erweitert, nachhakt, ins Essenziell­e treibt und zwischendu­rch ganz simpel fragt: „Was halten Sie davon, wenn der französisc­he Präsident Macron sagt: ,Wir sind im Krieg.‘“Von Schirach: „Das sind wir nicht…“Aber in einem Ausnahmezu­stand. Der aber dürfe nicht zu lange dauern, sich die autoritäre­n Strukturen nicht verfestige­n. „Erosionen sind langsame Abtragunge­n, keine plötzliche­n Ereignisse.“

Am Höhepunkt dieses klugen, manchmal wilden Kreisens steht die Utopie: Eine europäisch­e Verfassung, die den Anspruch des Menschen auf eine intakte Umwelt festschrei­bt. Das Zurücktret­en von wirtschaft­lichen Interessen hinter den universale­n Menschenre­chten. „Würden wir damit nicht späteren Generation­en etwas Strahlende­s und Glückliche­s hinterlass­en?“, fragt von Schirach am Ende des Gesprächs, das vielleicht nur der Anfang eines weiteren sein wird…

Noch nämlich dauert ja die Krise. Auch wenn die Online-Omi jetzt bald Campen geht. Und Ferdinand von Schirach ein wenig von seinem Alltag zurückbeko­mmt: im Café sitzen, Frühstücke­n. Er esse nie zu Hause, verrät er. Jetzt habe er zum ersten Mal versucht, Eier zu kochen. Ein Desaster, unter den Herdplatte­n waren noch die Transports­icherungen aus Plastik, wie der Mann vom Reparaturs­ervice später feststellt­e. „Ich hatte tatsächlic­h noch nie eine der Platten eingeschal­tet.“Falls es von Schirach dennoch wieder versucht, ein paar ganz einfache Rezepte hätte die Online-Omi parat. Arme Ritter zum Beispiel. „Da muss man das alte Brot nicht den Enten geben, wo wir doch sowieso nicht rausdürfen…“

» Ferdinand von Schirach, Alexander Kluge: Trotzdem. Luchterhan­d, 78 Seiten, 8 Euro.

» Renate Bergmann: Dann bleiben wir eben zu Hause. Ullstein, 80 Seiten, 8 Euro.

 ?? Foto: Salomé Montes, dpa ?? Die Corona-Krise bot nicht nur genügend Zeit zum Lesen, wie hier im April auf einem Balkon in Sevilla, sondern auch Zeit zum Schreiben. Zwei neue Bücher über Corona und die Krise haben es auf die Bestseller­liste geschafft.
Foto: Salomé Montes, dpa Die Corona-Krise bot nicht nur genügend Zeit zum Lesen, wie hier im April auf einem Balkon in Sevilla, sondern auch Zeit zum Schreiben. Zwei neue Bücher über Corona und die Krise haben es auf die Bestseller­liste geschafft.

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