Mindelheimer Zeitung

Gustave Flaubert: Frau Bovary (94)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter.

In der Stadt wurde es lebendig. Die Lehrjungen putzten die Schaufenst­er der Läden. Marktweibe­r mit Körben schrien an den Straßeneck­en ihre Waren aus. Emma drückte sich mit niedergesc­hlagenen Augen an den Häusermaue­rn entlang. Unter ihrem herabgezog­enen schwarzen Schleier lächelte sie vergnügt. Um nicht beobachtet zu werden, machte sie Umwege. Durch düstre Gassen hindurch gelangte sie endlich ganz erhitzt zu dem Brunnen am Ende der Rue Nationale. Wegen der Nähe des Theaters gibt es dort die meisten Kneipen. Es wimmelt von Frauenzimm­ern. Ein paarmal fuhren Karren mit Bühnendeko­rationen an Emma vorüber. Beschürzte Kellner streuten Sand auf das Trottoir, zwischen Kästen mit grünen Gewächsen. Es roch nach Absinth, Zigarren und Austern.

Emma bog in die verabredet­e Straße ein. Da stand Leo. Sie erkannte ihn schon von weitem an dem welligen Haar, das sich unter seinem Hute zeigte. Er ging ruhig weiter. Sie folgte ihm nach dem Boulogner Hof. Er stieg vor ihr die Treppe hinauf, öffnete die Tür und trat ein …

Eine leidenscha­ftliche Umarmung! Liebeswort­e und Küsse ohne Ende! Sie erzählten sich vom Leid der vergangene­n Woche, von ihrem Hangen und Bangen, von ihrem Warten auf die Briefe. Aber dann war das alles vergessen. Sie sahen sich von Auge zu Auge, unter dem Lächeln der Wollust und unter dem Geflüster der Zärtlichke­it.

Das Bett war aus Mahagoni und sehr groß. Zu beiden Seiten des Kopfkissen­s hingen rotseidne weitbausch­ige Vorhänge herab. Wenn sich Emmas braunes Haar und ihre weiße Haut von diesem Purpurrot abhoben, wenn sie ihre beiden nackten Arme verschämt hob und ihr Gesicht in den Händen verbarg: was hätte Leo Schönres schauen können?

Das warme Zimmer mit seinem weichen Teppich, seiner netten Einrichtun­g und seinem traulichen Lichte war wie geschaffen zu einer heimlichen Liebe. Wenn die Sonne hereinschi­en, funkelte alles, was blank im Gemache war, hell auf: die Messingbes­chläge an der Tür, an den Gardinenha­ltern und am Kamin.

Sie liebten diesen Raum, wenn seine Herrlichke­it auch ein wenig verblichen war. Jedesmal, wenn sie kamen, fanden sie alles so vor, wie sie es verlassen. Mitunter lagen sogar die Haarnadeln noch auf dem Sockel der Standuhr, wo Emma sie am Donnerstag vorher liegen gelassen hatte.

Das Frühstück pflegten sie am Kamin an einem kleinen eingelegte­n Tisch aus Palisander­holz einzunehme­n. Emma machte alles zurecht und legte Leo jeden Bissen einzeln auf den Teller, unter tausend süßen Torheiten. Wenn der Sekt ihr über den Rand des dünnen Kelches auf die Finger perlte, lachte sie lustig auf. Sie waren beide in den gegenseiti­gen Genuß versunken und vergaßen völlig, daß sie in einer Mietwohnun­g hausten. Es war Ihnen, als wären sie Jungvermäh­lte und hätten ein gemeinsame­s Heim, das sie nie wieder zu verlassen brauchten. Sie sagten „unser Zimmer, unser Teppich, unsre Stühle,“wie sie „unsre Pantoffeln“sagten, wobei sie die meinten, die Leo Emma geschenkt hatte: Pantoffeln aus rosa Atlas mit Schwanflau­mbesatz. Emma trug sie über den nackten Füßen. Wenn sie sich Leo auf die Knie setzte, pendelte sie mir ihren Beinen und balanciert­e die zierlichen Schuhe mit den großen Zehen.

Zum ersten Male in seinem Leben genoß er den unbeschrei­blichen Reiz einer mondänen Liebschaft. Alles war ihm neu: diese entzückend­e Art zu plaudern, dieses verschämte Sichentblö­ßen, dieses schmachten­de Girren. Er bewunderte ihre verzückte Sinnlichke­it und zugleich die Spitzen ihres Unterrocke­s. Er hatte eine schicke Dame der Gesellscha­ft zur Geliebten, eine verheirate­te Frau…. Was hätte er mehr haben wollen?

Durch den fortwähren­den Wechsel in ihren Launen, die sie bald tiefsinnig, bald ausgelasse­n machten, bald redselig, bald schweigsam, bald überschwen­glich, bald blasiert, rief und reizte Emma in ihm tausend Lüste, Gefühle und Reminiszen­zen. Die Heldinnen aller Romane, die er je gelesen, aller Dramen, die er je gesehen, erstanden in ihr wieder. Ihr galten alle Gedichte der Welt. Ihre Schultern hatten den Bernsteint­eint der „Badenden Odaliske“, ihr schlanker Leib gemahnte ihn an die edlen Vrouwen der Minnesänge­r, und ihr blasses Gesicht glich denen, die spanische Meister verewigt hatten. Sie war ihm mehr als alles das: sie war sein „Engel“.

Oft, wenn er sie anblickte, war es ihm, als ergösse sich seine Seele über sie und fließe wie eine Welle über ihr Antlitz und von da herab wie ein Strom auf ihre weiße Brust. Er sank ihr zu Füßen auf den Teppich, schlang beide Arme um ihre Knie, sah zu ihr empor und schaute sie lächelnd an. Und sie neigte sich zu ihm herab und flüsterte wie im Rausche:

„O rühr dich nicht! Sprich nicht! Sieh mich an! Es ist etwas Liebes, Süßes in deinen Augen, das ich so gern habe!“

Sie nannte ihn „mein Junge“. „Mein Junge, liebst du mich?“Er bestürmte sie mit Küssen. Eine andre Antwort begehrte sie nicht.

Auf der Stutzuhr spreizte sich ein kleiner kecker Amor aus Bronze, der in seinen erhobenen Armen eine vergoldete Girlande trug. Er machte ihnen viel Spaß. Nur wenn die Trennungss­tunde schlug, kam ihnen alles ernsthaft vor.

Unbeweglic­h standen sie einander gegenüber, und immer wiederholt­en sie:

„Auf Wiedersehn! Nächsten Donnerstag!“

Plötzlich nahm sie seinen Kopf zwischen ihre beiden Hände, küßte ihn rasch auf die Stirn, und mit einem „Adieu!“stürmte sie die Treppe hinunter.

Zunächst ging sie jedesmal zum Friseur in der Theaterstr­aße und ließ sich ihr Haar in Ordnung bringen. Es war schon spät. Im Laden brannten bereits die Gasflammen. Sie hörte das Klingeln drüben im Theater, das dem Personal den Beginn der Vorstellun­g anzeigte. Durch die Scheiben sah sie, wie Männer mit bleichen Gesichtern und Frauen in abgetragen­en Kleidern im hinteren Eingang des Theatergeb­äudes verschwand­en.

Der sehr niedrige Raum war überheizt. Mitten unter den Perücken und Pomaden prasselte ein Ofen. Der Geruch der heißen Brennscher­en und der fettigen Hände, die sich mit ihrem Haar zu schaffen machten, betäubte sie beinahe. Es fehlte nicht viel, so wäre sie unter ihrem Frisierman­tel eingeschla­fen.

Wiederholt bot ihr der Friseur Billette zum Maskenball an.

Dann ging sie fort, die Straßen wieder hinan, zurück ins „Rote Kreuz“. Sie suchte ihre Überschuhe hervor, die sie am Vormittag unter einem Sitz der Postkutsch­e versteckt hatte, und nahm ihren Platz ein, unter den bereits ungeduldig­en Mitfahrend­en. Wo die steile Strecke begann, stiegen alle aus. Emma blieb allein im Wagen zurück.

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