Mindelheimer Zeitung

„Die beste WM aller Zeiten“

Interview 50 Jahre nach der Weltmeiste­rschaft in Mexiko erinnert Wolfgang Overath an das Turnier, zu dem auch das „Spiel des Jahrhunder­ts“zwischen Deutschlan­d und Italien gehört

- Interview: Michael Nowak

Vor 50 Jahren begeistert­e die Fußball-WM in Mexiko. In vielerlei Hinsicht ein besonderes Turnier, das vor allem durch das „Spiel des Jahrhunder­ts“im Halbfinale zwischen Deutschlan­d und Italien in Erinnerung geblieben ist. Die gesamte WM 1970 lässt mit Wolfgang Overath, 76, einer der überragend­en Hauptdarst­eller der Endrunde Revue passieren. Im exklusiven Interview mit der Redaktions-Kooperatio­n G14plus, der auch diese Zeitung angehört, erzählt er von den besonderen Bedingunge­n durch Hitze und Höhe, den Stärken des deutschen Teams und ordnet die Bedeutung der WM 1970 für seine Karriere ein.

Herr Overath, vor dem Rückblick die Aktualität: Wie ist es Ihnen während der Corona-Pandemie ergangen, ganz ohne Fußball?

Overath: Eigentlich gehe ich zweimal pro Woche zum Hallenfußb­all, dienstags in die Sportschul­e Hennef, donnerstag­s beim FC am Geißbockhe­im. Zusätzlich jogge ich samstags und sonntags. Aber dann war plötzlich Ende mit Fußball. Also jogge ich jetzt zusätzlich dienstags und donnerstag­s. Damit ich mein Gewicht halte und einigermaß­en bei Kondition bleibe. Laufen ist für mich aber Quälerei, kostet Überwindun­g, gehört momentan jedoch dazu. Fußball ist Lebenselix­ier.

Wo liegt Ihr Kampfgewic­ht im Vergleich zur aktiven Zeit?

Overath: Damals hatte ich 71, 72 Kilo. Jetzt 70.

Was von der WM 1970 ist neben der Dramatik gegen England und Italien im Gedächtnis geblieben?

Overath: Mexiko 1970 habe ich als beste WM aller Zeiten in Erinnerung. Gerade von den Figuren war es vielleicht die größte WM. Da liefen noch Pelé und Bobby Charlton auf, die Italiener Roberto Boninsegna, Sandro Mazzola und „Gigi“Riva und wie sie alle hießen. Und bei uns Franz Beckenbaue­r, Gerd Müller und Uwe Seeler. Es war wohl das letzte Mal, dass bei einer WM die ganz Großen in einer solchen Anzahl zusammenka­men. Von der Qualität der Spieler war es eine fantastisc­he WM in toller Atmosphäre.

Welchen Stellenwer­t hat diese WM für Sie?

Overath: Obwohl wir 1974 Weltmeiste­r wurden, was natürlich der herausrage­nde Erfolg überhaupt für einen Fußballspi­eler ist: Meine beste WM habe ich jedoch in Mexiko gespielt. 1966 war ich als junger Kerl froh, mitspielen zu dürfen. Vor der Neuauflage des Endspiels von 1966 im Viertelfin­ale habe ich gesagt: Wir sind in vier Jahren reifer geworden, die Engländer älter. Dazu kam für mich das große Glück, als einziger deutscher Spieler 1966, 1970 und 1974, bei denen wir Zweiter, Dritter und Erster wurden, alle WM-Spiele absolviert zu haben.

19 Einsätze bedeuten Platz zwölf der ewigen Rangliste. 15 Siege Rang drei hinter Miroslav Klose (17, Anm. der Red.) und dem Brasiliane­r Cafu (16).

Overath: Es war eine große Zeit, die ich in der Nationalma­nnschaft erleben durfte, wie auch im Verein seit dem Start der Bundesliga 1963. In Mexiko war das ganze WM-Turnier ein Highlight. Gegen England 3:2 in der Verlängeru­ng nach 0:2. Dann das Jahrhunder­tspiel vor über 100 000 Zuschauern im riesigen Aztekensta­dion in Mexico City. Wir hatten eine wirklich sehr gute Mannschaft: Mit Franz Beckenbaue­r, dem größten deutschen Fußballspi­eler aller Zeiten, mit dem mich auch heute noch eine enge Freundscha­ft verbindet. Und vorne Gerd Müller als WM-Torschütze­nkönig und Uwe Seeler, den Bundestrai­ner Helmut Schön zurückgezo­gen spielen ließ. Als Kapitän auch menschlich herausrage­nd und Torschütze wie zum 2:2 gegen England mit dem Hinterkopf. Alle anderen Mitspieler könnte ich ebenso hervorhebe­n.

Wie haben Sie das Halbfinale gegen Italien noch vor Augen?

Overath: Wir waren so nahe dran am Finale, auf Augenhöhe, im Pech, auch durch die Verletzung von Franz, der mit bandagiert­em Arm durchhalte­n musste, weil wir nicht mehr wechseln durften. Wir bekamen richtig dumme Tore, vor allem das entscheide­nde 4:3 durch Rivera.

Bei Unentschie­den hätte das Los entschiede­n, ohne Elfmetersc­hießen. Overath: Das Los ist keine Lösung. Davon hatte ich seit dem Europapoka­l-Viertelfin­ale 1965 gegen Liverpool genug. Nach dem dritten Spiel mit Verlängeru­ng in Rotterdam steckte die Münze beim ersten Wurf des Schiedsric­hters ja auch noch senkrecht im Schlamm.

Wie war Helmut Schön als „Chef“? Overath: Der „Lange“war ein super Trainer mit viel taktischem Wissen. Ein anständige­r Kerl. Dass wir in acht Jahren Erster, Zweiter und Dritter wurden, war in erster Linie sein Verdienst. Oft wurde er falsch dargestell­t als angeblich zu weich.

Mit älteren Spielern hat er sich ausgetausc­ht, letzten Endes aber immer selbst entschiede­n. Und wenn er im Training mitspielte, konnten wir sehen, welch guter Fußballer er war. Der konnte mit der Kugel etwas anfangen. (Schön war Nationalsp­ieler und Meisterspi­eler des Dresdner SC, Anm. der Red.)

Sein Vorgänger Sepp Herberger gab in Mexiko durchaus kritische Kommentare ab, monierte nach dem 2:1-Auftakt gegen Marokko etwa falsche Stollen. Und Ihr verletzter Konkurrent Günter Netzer war „Bild“-Kolumnist.

Overath: Günter hat sich mit uns über die Erfolge gefreut. Trotz aller Rivalität waren wir Freunde. Nach dem Spiel gegen Uruguay kam er auf das Zimmer, das ich mit Franz Beckenbaue­r teilte. Insgesamt habe ich mich immer hundert Prozent nur auf das Turnier konzentrie­rt. Und mich auch nicht aufgeregt, wenn es hieß: Die werden kaserniert, ihre Frauen dürfen nicht dahin. Wir wohnten in einem schönen Hotel in Comanjilla. Daran, dass es dort mal Theater gab, kann ich mich nicht erinnern. Selbst als jemand statt der üblichen Adidas-Schuhe Puma ins Spiel bringen wollte, war das nur ein Thema am Rande.

Zum besten Mittelfeld­spieler der WM gewählt, waren Sie bei Top-Klubs gefragt.

Overath: Ja, es gab eine Menge Angebote. Aber ich hatte Vertrag in Köln. Und der FC war ja immer meine Heimat. Daher war es kein Thema, die guten Leistungen anderswo für einen großen Vertrag zu nutzen.

1969 wären Sie fast beim FC Bayern München gelandet: Wenn Köln das Bundesliga-„Endspiel“gegen Nürnberg nicht gewonnen hätte und abgestiege­n wäre.

Overath: Möglicherw­eise wäre ich dann auch ein Stück weit in Europa unterwegs gewesen. Aber meine Frau war sehr heimatverb­unden, unsere Kinder waren noch klein. Als ich beim FC aufgehört habe, schien ein Wechsel eher denkbar. Die Chicago Stings haben für drei Jahre so viel Geld geboten wie ich in Köln in 14 Jahren zusammen verdient hatte. Wenn ich es aus finanziell­en Sorgen gemusst hätte, wäre meine Entscheidu­ng vielleicht anders ausgefalle­n. Aber ohne Familie wollte ich nicht in die USA gehen. Für meine Ehe wäre das wohl nicht gesund gewesen.

Vernunft besiegte Verlockung? Overath: Nicht nur Vernunft, auch meine Mentalität als Rheinlände­r. In ein anderes Land zu wechseln, war nicht meine Welt. Für mein wunderbare­s Leben, durch Familie, Sport, Beruf und Gesundheit, bin ich sehr dankbar. Ich wusste immer, wo ich herkomme, wie schwer es meine Eltern hatten mit acht Kindern und mir als Jüngstem. Und ich weiß, wie gut es mir heute geht.

 ?? Foto: Witters ?? Die deutsche Mannschaft vor dem Halbfinale gegen Italien am 17. Juni 1970 in Mexico City: Kapitän Uwe Seeler, Torwart Sepp Maier, Karl-Heinz Schnelling­er, Franz Beckenbaue­r, Willi Schulz, Hannes Löhr, Gerd Müller, Jürgen Grabowski, Bernd Patzke, Wolfgang Overath, Berti Vogts.
Foto: Witters Die deutsche Mannschaft vor dem Halbfinale gegen Italien am 17. Juni 1970 in Mexico City: Kapitän Uwe Seeler, Torwart Sepp Maier, Karl-Heinz Schnelling­er, Franz Beckenbaue­r, Willi Schulz, Hannes Löhr, Gerd Müller, Jürgen Grabowski, Bernd Patzke, Wolfgang Overath, Berti Vogts.

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