Als der Terror nach Wien kam
Anschlag Es ist Montag gegen 20 Uhr, der Abend vor dem zweiten Corona-Lockdown in Österreich. Menschen treffen sich noch einmal in den Lokalen. Dann zieht ein islamistischer Attentäter durch die Straßen. Über eine albtraumhafte Nacht und junge Muslime, di
Wien An Schlaf ist in der Nacht zum Dienstag bei den meisten Wienern nicht zu denken. Fast permanent sind Sirenen zu hören, in allen inneren Bezirken sind Einsatzkräfte unterwegs. Hubschrauber kreisen über der Stadt. Und es dauert, bis die Menschen realisieren, was da am Montagabend geschehen ist: der schwerste Terroranschlag in der jüngeren Geschichte des Landes.
Am Dienstagmorgen befindet sich Wien noch immer im Ausnahmezustand. Eine Pressekonferenz jagt die nächste, die Regierungsspitze und die Polizei treten vor die Journalisten, Bundespräsident Alexander Van der Bellen stellt im klar: Österreich lässt sich nicht spalten, Hass hat hier keine Chance. Ein „feiges, terroristisches Attentat auf das Herz unserer Gesellschaft“habe stattgefunden.
Ganz Österreich steht unter Schock, zu Mittag wird bundesweit eine Schweigeminute für die Opfer des Anschlags abgehalten. In Wien fordern die Behörden die Menschen auf, die eigenen vier Wände – wenn möglich – nicht zu verlassen. Wer nicht unbedingt hinausmuss, bleibt gerne zu Hause. Zu diesem Zeitpunkt ist noch nicht klar, ob der Täter allein gehandelt hat, oder ob es weitere Schützen gab. Erst später geht die Polizei immer stärker davon aus, dass der in Mödling bei Wien geborene 20-jährige Kujtim Fejzulai alleine geschossen hat.
Und erst am Nachmittag beruhigt sich die Lage in der Wiener Innenstadt etwas. Das Zentrum und die Tatorte bleiben abgeriegelt. Es herrscht Angst, bei vielen auch Wut und Entsetzen, dass eine solche Tat nicht verhindert werden konnte.
Die Nacht von Montag auf Dienstag ist die letzte Nacht vor dem zweiten Corona-Lockdown in Österreich, inklusive Ausgangsbeschränkungen. Den für Anfang November recht lauen Abend nutzen zahlreiche Wiener, um noch einmal auszugehen: ins Burgtheater an der Ringstraße, in die Oper, oder eben für einen Lokalbesuch in die Stadtmitte. Rund um den Schwedenplatz, im sogenannten BermudaDreieck, sind die Bars und Restaurants gut besucht, man sitzt in den „Schanigärten“, wie in Wien die kleinen Terrassen vor den Lokalen genannt werden. Noch einmal ein paar Freunde treffen, bevor es coronabedingt wieder in die Isolation zu Hause geht, wie im Frühjahr.
Gegen 20 Uhr fallen dann Schüsse vor dem Stadttempel, der großen Synagoge in der Seitenstettengasse: an die 50 in rascher Folge, so schildern es Augenzeugen. In der Synagoge wie in den Räumlichkeiten der Israelitischen Kultusgemeinde befinden sich zu dieser Zeit keine Gläubigen, die Tore sind verschlossen. Direkt gegenüber des Stadttempels sind die Lokale, der Attentäter feuert durch ihre Fensterscheiben. Danach zieht es ihn offenbar einige hundert Meter weiter in Richtung Schwedenplatz. Dort schießt er ebenfalls um sich. Videos zeigen Polizisten, die auf ihn schießen. Er feuert mit einer automatischen Waffe zurück. Einer der Beamten bricht zusammen. Hunderte Menschen flüchten panisch. Aus der U-BahnStation Schwedenplatz stürmen Menschen nach oben. Sie vermuten, dass die Schüsse aus dem U-BahnBereich kommen.
Die Polizei riegelt den gesamten ersten Bezirk ab, Theater- und Opernbesucher müssen Stunden im Inneren der Gebäude und unter Polizeischutz ausharren. Elitesoldaten des Jagdkommandos werden in die Stadt zum Objektschutz verlegt, um Polizeikräften für die Ermittlungsarbeit und die Fahndungen den Rücken freizuhalten.
Viele Wiener wähnen sich in der Nacht im Glauben, ein oder mehrere Attentäter würden sich möglicherweise noch im Stadtgebiet aufhalten. Es ist eine albtraumhafte Nacht. Erst am Morgen wird manches klarer. Auch, dass der Sprengstoffgürtel des Attentäters – über den so viel berichtet wurde – eine Attrappe war.
Vielen Passanten und Augenzeugen ist während der Tat zunächst nicht bewusst, dass es sich um Terror handelt. „Wer denkt denn in Wien an einen Anschlag? Und es war auch lange keine Polizei da“, sagt ein Augenzeuge am Dienstag. Er war vor Ort, um ein Geschäft für den bevorstehenden Lockdown zu schließen. Er sagt auch, er habe während des Anschlags nur einen Täter gesehen, und der sei von der Polizei in der Nähe der Ruprechtskirche erschossen worden. Das war um 20.09 Uhr.
Vier Menschen, darunter eine Deutsche, die sich in den Lokalen am Stadttempel aufhielten, verlieren ihr Leben. Zwei von ihnen sterben in der Nacht im Krankenhaus. Von den 22 Verletzten ringen am Dienstagnachmittag noch sieben um ihr Leben. Am Abend kommt Entwarnung: Sie sind außer Lebensgefahr.
Es sind junge Muslime, die am Montagabend zu Helden werden:
Osama Joda beispielsweise. Oder Recep Gültekin und sein Freund Mikail Özen. Wie viele andere wollen die beiden den letzten Abend vor dem Lockdown zum Ausgehen nutzen, „für unseren letzten Kaffee“. In einem Video erzählt Özen: „Leute sind blutüberströmt am Boden gelegen, wir haben eine ältere Frau genommen und weggebracht, in Sicherheit.“Die türkischstämmigen jungen Männer sehen auch einen verwundeten Polizisten am Boden liegen, laufen zu ihm und tragen ihn zu einem Krankenwagen. Dasselbe macht der palästinensischstämmige Osama Joda. Er und seine Familie sind in den österreichischen Medien keine Unbekannten: Zeitungen berichteten im vergangenen Februar die niederösterreichische Gemeinde Weikendorf, die sich mit allen Mitteln gegen den Zuzug der muslimischen Familie, die im Ort ein Haus kaufte, zur Wehr setzte. Der Weikendorfer Bürgermeister wollte keine Muslime dort.
Unter anderem auf Twitter werden die jungen Männer nun für ihren selbstlosen Einsatz gefeiert. ÖVP-Innenminister Karl Nehammer betont ausdrücklich ihren Migrationshintergrund.
Wenig ruhmreich dagegen verhalten sich während des Anschlags einige Journalisten – vor allem von Boulevardmedien. Der TV-Sender
des Herausgebers Wolfgang Fellner sorgt mit der Ausstrahlung von Handy-Videos, auf denen der schießende Attentäter zu sehen ist, für heftige Kritik. Fellners Sender ist berüchtigt dafür, die Grenzen des Anstands und die journalistische Sorgfaltspflicht immer wieder zu ignorieren. Den gesamten Montagabend über wiederholt die Szenen. Auch nachdem die Polizei dazu aufgefordert hatte, aus ermittlungstaktischen Gründen keine Videos zu verbreiten, sondern diese über eine eigens eingerichtete Internetseite den Einsatzkräften zu schicken. Auch der Webauftritt der
wird kritisiert. Mit Folgen. Die Supermarktketten Billa, Spar und Hofer kündigen am Dienstag Werbeverträge auf, die Bundesbahnen ÖBB, der Internet-Wettanbieter Bet-at-Home und Ikea schließen sich an.
Und dann wird, natürlich, über den Attentäter diskutiert. Monatelang saß er im vergangenen Jahr im Gefängnis, weil er versucht hatte, nach Syrien auszureisen. Er wollte sich dort der Terrormiliz „Islamischer Staat“, kurz IS, anschließen. Dem Verfassungsschutz war er längst bekannt. Auf freien Fuß kam er, weil er als junger Erwachsener galt und so auf ihn das Jugendgerichtsgesetz angewandt wurde. Das sorgt bei vielen Österreichern für Unverständnis und Zorn. Hat der Verfassungsschutz versagt?
Thomas Riegler nimmt die Exekutive in Schutz. „Im Nachhinein ist es einfach, mit dem Finger zu zeigen“, sagt der Terrorismus- und Geheimdienstexperte vom Austrian Center for Intelligence, Propaganda and Security Studies. Nach wie vor würden sich viele Dutzend „islamistische Gefährder“in Österreich aufhalten, „alle gleichzeitig 24 Stunden lang zu überwachen, ist eine Herkulesaufgabe und fordert enorme perüber sonelle Ressourcen“. Riegler sagt, schon im Jahr 2018 sei von 320 Gefährdern in Österreich die Rede gewesen. Und er weist darauf hin, dass auch bei ähnlichen Anschlägen in Frankreich, Deutschland oder Großbritannien die Täter allesamt polizeibekannt waren.
Aber: „Die These vom schwer kontrollierbaren ‚einsamen Wolf‘ ist in den meisten Fällen unzutreffend“, sagt er. Er geht davon aus, dass der Attentäter Teil eines Netzwerks war: „Gänzlich allein handelt ein islamistischer Attentäter in den seltensten Fällen. Es ist gut möglich bis recht wahrscheinlich, dass die Tat schon länger organisiert war und nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet wurde.“Ins Bild passe, dass der Attentäter seine Tat nicht nur in sozialen Netzwerken angekündigt, sondern auch Freunden Videos mit Bezug zum jüngsten Anschlag in Frankreich geschickt habe, sagt Riegler. „Terrorismus findet in einem internationalen Resonanzraum statt, und natürlich spielen soziale Medien eine entscheidende Rolle.“Er meint damit die in vielen muslimischen Ländern seit den Mohammed-Karikaturen der Satirezeitschrift Charlie Hebdo äußerst aufgeheizte Stimmung. Diese werde, sagt Riegler, von der Türkei aus zusätzlich befeuert. „Als Ausführende der Tat finden sich dann häufig Personen, die ihre eigene empfundene Minderwertigkeit, ihre Ohnmachtsgefühle, Gefühle der Demütigung durch die Tat beseitigen, sich selbst überhöhen wollen.“
Bereits in den frühen Morgenstunden finden in Wien, St. Pölten und im oberösterreichischen Linz mindestens 18 Hausdurchsuchungen statt, bei denen 14 Personen festgenommen werden. Wie der
aus der Schweiz berichtet, habe eine Sondereinheit zudem in Winterthur zwei Männer festgenommen. Sie sollen sich mit dem Attentäter getroffen haben, wie die Schweizer Justizministerin Karin Keller-Sutter am Dienstagabend auf einem Podium des St. Galler Tagblattes bekannt gibt. Am Dienstagabend reklamiert die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) den Anschlag auf seiner Plattform Naschir News für sich. Das österreichische Innenministerium prüfe die Echtheit des Bekennerschreibens, hieß es gegenüber der Nachrichtenagentur APA.
Wien galt in den vergangenen Jahren als Drehscheibe und Rückzugsgebiet des Islamismus, vor allem in Bezug auf die nahen Balkanstaaten. Weg waren islamistische Netzwerke in Wien und ganz Österreich nie – sie verschwanden nur aus dem Blickfeld.
Schon am Dienstag zeichnet sich eine politische Debatte über die Verantwortung ab. Am Abend aber, so scheint es, rückt zunächst die österreichische Gesellschaft näher zusammen. Die Regierungsspitze um Kanzler Sebastian Kurz von der ÖVP hat kurz zuvor in der Seitenstettengasse Kränze niedergelegt. Am Abend gedachten verschiedene Religionsgemeinschaften sowie die weitere Staatsspitze bei einem ökumenischen Gottesdienst im Stephansdom der Opfer. Bis Donnerstag gilt landesweit Staatstrauer.
Es wird dauern, bis die Wunden jener Terrornacht verheilt sein werden. Das lässt sich schon am Dienstag sagen.