Wie die Mafia an der CoronaKrise verdient
Kriminalität Die Pandemie verändert in Italien auch das Verbrechen. So legt Neapels Camorra ihren Fokus inzwischen stark auf den Gesundheitssektor. Sie mischt mit im Desinfektionsmittel-Handel und sogar bei der Berufung von Chefärzten
Neapel Die „Verräter“haben ihr Hauptquartier in der Via Vanella Grassi in Secondigliano. Jahrelang herrschten hier, im Norden Neapels, Fehden zwischen verfeindeten Camorra-Clans. Die Via Vanella Grassi ist eng, ein paar Kleinwagen sind geparkt, von den Wäscheleinen an den Balkonen hängen feuchte Kleider herab. Die Idylle trügt.
In den insgesamt drei CamorraKriegen von Secondigliano seit 2003 starben dutzende Menschen. Doch die Corona-Pandemie hat auch das Verbrechen verändert: Die Verbrecher morden weniger, sie machen nun verstärkt Geschäfte. Und zwar im Gesundheitssektor.
Antonio Mennetta ist der Boss der „Verräter“, die sich vom Clan der „Scissionisti“abgespalten hatten. 2013 wurde er wegen Mordes und Angehörigkeit in einer Mafiaorganisation verhaftet. Er, der sich einst selbst als „Kaiser von Secondigliano“bezeichnete, führt dennoch weiterhin die Geschäfte des Clans. Die Ermittler kamen Mennetta vergangenes Jahr einmal mehr auf die Spur. Der 36-Jährige sitzt zwar im Hochsicherheitsgefängnis von Sassari auf Sardinien, das hinderte ihn aber nicht, seinen Camorra-Clan auf die neue Strategie einzuschwören.
Statt des Drogenhandels, um dessen Vorherrschaft früher im Norden
Neapels brutal gerungen wurde, baute Mennetta ein Firmennetzwerk auf, das sich auf die Desinfektion von Wohnungen, Wohnanlagen, Gärten und öffentlichen Gebäuden spezialisiert hatte. Der Boss witterte angesichts der Corona-Pandemie einen weiteren lukrativen Geschäftsbereich.
Mennettas Schwager führte die Geschäfte vor Ort und holte die Aufträge ein. Der Boss gab mit codierten Nachrichten seine Anweisungen aus der Haft. „Wir hatten fast den Eindruck, dass Mennetta ein Wirtschaftsstudium im Gefängnis aufgenommen hatte“, erzählte ein Ermittler. So geschäftstüchtig zeigte sich der „Kaiser von Secondigliano“.
Die Corona-Pandemie hat die italienische Mafia zu einer Metamorphose gezwungen. Noch immer bestimmt das Bild mordender Banden die allgemeinen Vorstellungen, wenn es um sie geht. Doch Cosa Nostra auf Sizilien, Camorra in Kampanien und die ’Ndrangheta in Kalabrien haben seit Jahren ihre Geschäftsbereiche ausgeweitet und unterwandern das Wirtschaftssystem. Gerade einmal 28 von der Mafia in Auftrag gegebene Morde registrierte die italienische Polizei im Jahr 2019, 30 Jahre zuvor waren es mehr als 1900 im Jahr. Das Morden der Mafia ist so gut wie vorbei – und einer der Bereiche, den sie sich seit Ausbruch der Pandemie systematisch verstärkt erschließt, ist der Gesundheitssektor. Die Mafia bewegt sich dorthin, wo das Geld ist.
Etwa neun Prozent des italienischen Staatshaushalts flossen vor Corona in das Gesundheitswesen. 209 Milliarden Euro an Hilfsgeldern sollen bis 2026 aus Brüssel zur Unterstützung an Italien gehen. „Die Mafia will sich die Gelder aus dem Recovery Fund schnappen, sie will Macht. Und Geld bedeutet in einer kapitalistischen Gesellschaft Macht.“Das sagt Nicola Morra, der Vorsitzende der Anti-Mafia-Kommission im Parlament in Rom, wo seit Mitte Februar die neue Regierung unter Mario Draghi amtiert.
Noch hat Italien keinen Euro bekommen, weil die Anträge für konkrete Projekte noch nicht geschrieben sind. Aber allen ist klar, dass das Versickern der Hilfsgelder in dunkle Kanäle die größte Gefahr ist.
Die Mafia kennt sich aus im Gesundheitssektor. Die Clans streckten schon länger ihre Fühler aus. Im vergangenen November hoben die Carabinieri in Palermo einen angeblich gemeinnützigen Verein aus, der sich auf den Transport von Dialysepatienten spezialisiert hatte. Knapp vier Millionen Euro staatlicher Gelder sahnten die vermeintlichen Wohltäter auf diese Weise ab. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei den sechs Festgenommenen um Mitglieder der Cosa Nostra. Die Staatsanwaltschaft berichtet von einem richtiggehenden Kartell.
Von der neapolitanischen Camorra ist bekannt, dass sie sogar Krankenhäuser in Neapel und Caserta unterwanderte. Verschiedene Clans entschieden in mehreren Krankenhäusern über Neueinstellungen, über die Berufung von Chefärzten und verhandelten mit den Gewerkschaften. Die ’Ndrangheta versuchte sich im Handel mit Krebsmedikamenten und unterwanderte Apotheken in finanziellen Schwierigkeiten. „Mit den Medikamenten machen wir 100 Millionen im Jahr“, freute sich ein Boss, den die Staatsanwaltschaft Catanzaro abhörte.
Die Corona-Pandemie verändert die Welt seit mehr als einem Jahr. Und das gilt gleichermaßen für die Organisierte Kriminalität. „Von den Casamonicas bis zu den Fasciani, von den Casalesi bis zur Mafia aus Catania, von den kalabrischen Clans bis zu denen aus Apulien, alle sind in dieser Notstandsphase damit beschäftigt, ihre Finger in den reichhaltigen Teller des Gesundheitswesens zu stecken“, heißt es in einem Bericht der Anti-Mafia-Organisation Libera aus dem Dezember. Coronavirus, Wirtschaftskrise, Armut: „Das ist der perfekte Sturm für die Mafia, die den Tisch für das große Fressen längst gedeckt hat.“
Angesichts des stagnierenden Drogenabsatzes wegen des Lockdowns ist die Mafia auf der Suche nach neuen Geschäftsbereichen. Dazu gehören laut Libera „der enorme Bedarf an Sanitärmaterial,
Desinfektion, Masken, medizinischen Geräten“. Ungewohnte Blüten treiben demnach auch Erpressung, Zinswucher, die Entsorgung von Krankenhausmüll oder das Erschleichen „von nationalen oder europäischen Hilfsgeldern“. Italien ist von der Pandemie so stark betroffen wie kaum ein anderes Land in der EU. Die Marke von 100000 Corona-Toten wurde Anfang März überschritten, das Wirtschaftswachstum ging um knapp neun Prozent zurück. Das nutzt die Mafia aus.
Italiens Wirtschaft wird von kleinen und mittleren Unternehmen geprägt, die besonderen finanziellen Schwierigkeiten nach dem monatelangen und je nach Region weiter und wieder andauernden Lockdown ausgesetzt sind. Den kleinen Unternehmen fehlen liquide Mittel.
Vor allem die Hauptstadt ist massiv betroffen. „Wir haben es mit einer gigantischen Investition von Mafiageldern in den Produktionskreislauf in Rom zu tun“, sagt Gianpiero Cioffredi, Vorsitzender des „Observatoriums für Legalität“der Region Latium. Cioffredi berichtet von einem um mehr als 50 Prozent gestiegenen Zulauf, den seine Beratungsstelle von Erpressungsopfern erfährt. Im Vergleich zu 2019. „Es kommen Leute, die sich verschulden mussten wegen einer Krankheit und die in diesem Tunnel wegen 3000, 4000 Euro stecken bleiben.“
240000 Betriebe gaben italienweit im Jahr 2020 auf. Hart getroffen ist die Gastronomie, die nach Branchenangaben einen Umsatzeinbruch von 34 Milliarden Euro hinnehmen musste. 6000 Gaststätten oder Bars sollen bereits in den Händen der Organisierten Kriminalität sein, 9000 gelten seit den Covid19-Einschränkungen als „gefährdet“.
Die Unterwanderung durch die Wucherer ist dabei der eher handgreifliche Aspekt der Krise. „Cravattari“oder „Strozzini“werden die Zinswucherer in Rom genannt, sie, die kleinen Fische, packen ihre zahlungsunfähigen
Das Morden scheint so gut wie vorbei zu sein
Es ist jetzt die Zeit der „Colletti bianchi“
Opfer irgendwann am Kragen und übernehmen dann die Betriebe. Aber es gibt auch die großen Fische, sie sind meist wendiger und geschickter. Am 21. Januar verhaftete die Staatsanwaltschaft Catanzaro einen engen Mitarbeiter von Domenico Arcuri, dem inzwischen entlassenen italienischen Sonderbeauftragten für die Pandemie. Natale E. galt zunächst als MusterBeamter, dann fanden die Ermittler heraus, dass er mithilfe seiner Mafiakontakte einem kalabrischen Politiker Wählerstimmen verschafft haben soll. Der Mann arbeitete in der Zentrale, die über die Vergabe von Masken und Anti-Corona-Impfungen entschied. Staatsanwalt Nicola Gratteri warnt: „Wir haben es mit vielen janusköpfigen Subjekten zu tun, die vorne herum vertrauenserweckend wirken, hintenherum aber kriminell agieren.“
„Colletti bianchi“werden sie in Italien genannt, weiße Kragen. Es sind die Anzugträger, die als Mittelsmänner in der Grauzone zwischen Mafia und Behörden agieren.
Und dann wäre da noch „das flüssige Gold“, auf das es die Mafia abgesehen hat, die Impfungen. So bezeichnete der Generalsekretär von Interpol, Jürgen Stock, in einem Interview im Dezember die Vakzine, mit denen nun auch in Italien so viele Menschen wie möglich geimpft werden sollen. Noch ist es zum Glück nicht so weit gekommen, aber Stock zeichnete ein dramatisches Bild: „Wir werden Diebstähle und Lagereinbrüche sehen und Überfälle auf Impfstoff-Transporte; Korruption wird vielerorts grassieren, um schneller an den wertvollen Stoff zu kommen.“
Drei italienische Staatsanwaltschaften ermitteln schon wegen auf dem Schwarzmarkt vertriebener Corona-Impfungen. Sie hatten unter anderem einen sogenannten Broker im Visier, der auf dem brasilianischen Markt aktiv ist. Als diese Verbindung nach Brasilien herauskam, klingelten bei einigen Fahndern die Alarmglocken. Es ist bekannt, dass die größte Verbrecherorganisation Brasiliens, das Primeiro Comando da Capital (PCC), seit Jahren mit der kalabrischen ’Ndrangheta kooperiert, bislang im Drogenhandel. Wie es aus Ermittlerkreisen heißt, sollen PCC und ’Ndrangheta nun einen Pakt geschlossen haben, in dem sie sich über den Verkauf und die Verteilung von Anti-Corona-Impfstoffen geeinigt haben.