Klare Botschaft und Wolfsgeheul
Film Die Oscars mal anders: Die 93. Verleihung der Academy Awards vor kleinem Publikum war eine wenig spektakuläre Zeremonie, jedoch mit einer großen Gewinnerin und divers wie nie. Eine Betrachtung in Kategorien
● Größte Gewinnerin Das Besondere verliert seinen Status nicht dadurch, dass man es erwartet. Die chinesischstämmige Regisseurin Chloé Zhao galt mit ihrem Roadmovie „Nomadland“über moderne Wanderarbeiter in den USA als eine Favoritin. Zwei Oscars nahm sie entgegen, für den besten Film und die beste Regie. Man kann also kaum mehr in einem Jahr gewinnen (zusätzlich über 200 internationale Film- und Festivalpreise), man kann aber auch kaum bescheidener auftreten als die 39-Jährige. „Egal, wohin in der Welt ich gegangen bin, ich habe immer Güte in den Menschen entdeckt“, bedankte sich Zhao, die als zweite Frau nach Kathryn Bigelow für Regie ausgezeichnete wurde und als erste Nicht-Weiße! Zum ersten Mal auch waren überhaupt zwei Frauen nominiert.
● Größter Verlierer Ob man sich zu den Verlierern oder Siegern zählt, hängt vor allem von den eigenen Erwartungen ab. Und die Frage ist ja auch: Gibt es derzeit irgendwo größere Erwartungen als bei Netflix? Im Corona-Jahr ohne Kinos war der Streamingdienst der große Gewinner und hätte auch bei den Oscars abräumen können – mit 36 Nominierungen, darunter zehn für einen der Favoriten des Abends. Am Ende reichte es für die Filmbiografie „Mank“von David Fincher „nur“für zwei Oscars, für die beste Kamera (Erik Messerschmidt) und das beste Produktdesign. „Thank you Netflix“, der Satz fiel aber doch mehrfach. Sieben Auszeichnungen gab es für den Streaming-Giganten. Unter anderem die Oscars für bestes Kostümdesign (Ann Roth) sowie bestes Make-up und beste Frisuren für den Netflix-Film „Ma Rainey‘s Black Bottom“.
● Erstaunlichster Moment Immer wieder großartig, was man in Reden alles erwähnen kann, obwohl so wenig Zeit bleibt: Zum Beispiel, wie der Brite Daniel Kaluuya, Oscar als bester Nebendarsteller für seine Rolle in „Judas and the Black Messiah“, das Wunder des Lebens feierte, sprich auch den eigenen Entstehungsprozess: „Ich gehe, ich atme, meine Mutter und mein Vater hatten Sex, es ist erstaunlich“. Gewinnerin in dieser Kategorie dennoch Frances McDormand, ausgezeichnet als beste Hauptdarstellerin in Nomadland (Nummer drei übrigens für die 63-jährige Amerikanerin): Sie bat bei der Rede zum besten
Film erst die Zuschauer, den Film wie auch alle anderen doch auf der größtmöglichen Leinwand im Kino anzusehen, heulte danach, um ihren kürzlich verstorbenen Ton-Kollegen Michael Wolf Snyder zu ehren, wie ein einsamer Wolf.
● Größte Enttäuschung Wenn Menschen Enttäuschung überspielen können, dann wohl Schauspieler. Glenn Close (Hillibilly Elegy) jedenfalls lächelte sie mit Grandezza weg. Acht Mal nominiert, acht Mal leer ausgegangen. Das ist Rekord für eine Schauspielerin. Youn Yuh-jun, die den Oscar als beste Nebendarstellerin für ihre Rolle als koreanische Großmutter in „Minari“gewann, fand es auch unfassbar: „Ich hatte doch einfach nur Glück, wie kann ich denn gegen Glenn Close gewinnen.“Close, 74, schwenkte später zum Song „Da Butt“den Po, machte daraus den Act des Abends, kein Grund zur Sorge also. Youn Yuh-jun, 73, wiederum gestand eine kleine Enttäuschung ein: Wo denn Brad Pitt, der den Preis anmoderierte, all die Jahre gesteckt habe, als sie jünger gewesen sei.
● Berührendste Rede Woran man sich erinnert – nie an die reinen Dankesworte. Sondern zum Beispiel an den vor Freude tanzenden Roberto Benigni 1999… Von den Oscars 2021 wird es neben der wunderbar witzigen Youn Yuh-jun vor allem der dänische Regisseur Vinterberg sein, der mit seiner traurig
Rede im Gedächtnis bleibt: Seinen Oscar für den besten internationalen Film widmete er seiner Tochter Ida, die kurz nach Beginn der Dreharbeiten für „Der Rausch“bei einem Autounfall starb. „Wenn wir uns nur trauen zu glauben, dass sie auf eine Weise hier bei uns ist – dann könntet ihr sie hier mit uns klatschen und jubeln sehen“, sagte Vinterberg: „Also Ida, das ist ein Wunder, das gerade passiert ist. Du bist Teil dieses Wunders.“
● Größte Überraschung Etwa die Tatsache, dass es wirklich keine Getränke gab, obwohl das ganze Setting im Bahnhof Union Station in Los Angeles ja mit all den Tischchen und all dem Samt irgendwie an einen Nachtclub erinnerte? Oder doch, dass die Reihenfolge für die Verleihung geändert wurde, der beste Film völlig unüblich noch vor dem besten Schauspielern verkündet wurde? Natürlich nicht. Vielleicht eher dies. Dass Regisseur Steven Soderbergh als Mitproduzent des Abends das Finale derartig missglückte. So razzfazz nämlich wie der Abend durchmoderiert wurde, so abrupt wurde er beendet. Quasi als Rausschmeißer aus dem Klub verkündete Joaquin Phoenix noch schnell den besten Hauptdarsteller: Anthony Hopkins für seine Rolle als demenzerkrankter Vater im Film „The Father“. Hopkins ist mit 83 Jahren damit ältester Schauspieler, der je einen Oscar für die Hauptrolle erhielt, war aber weder vor Ort noch wie andere per Kamera zugeschaltet. Mutmaßen kann man nur, dass die Produzenten erwartet hatten, dass der „Black Panther“-Star Chadwick Boseman posthum für seine Rolle in „Ma Rainey’s Black Bottom“ausgezeichnet werde – sie also mit einer großen emotionalen Würdigung rechneten. Dann aber las Phoenix den Namen Hopkins vor ... Applaus, Abgang, Abspann.
● Bestes Kostüm Ein edles Strickkleid aus feinem metallisch glitzernden Faden und dazu weiße Turnschuhe – ähnliches hatten die Macher der Show vielleicht im Sinn, als sie den Dresscode für den Abend als „Verschmelzung von inspirierend und ambitioniert“beschrieben: Abermalige Siegerin also die fein bezopfte Chloé Zhao. Ansonsten: Tüll, Federn und viel Gold, verschmolzen mit Homeoffice-Gemütlichkeit – lässig vorgeführt von Questlove, Musik-Direktor der diesjährigen Oscars, er kam in goldenen Crocs.
● Botschaft des Abends Zu alt, zu weiß, zu männlich – diese Vorwürfe kann man der Academy in diesem Jahr nicht machen. Noch nie waren so viele Frauen nominiert, noch nie so viele People of Colour, noch nie wurde so eindringlich über deren Lebenserfahrungen gesprochen. Den Ton des Abends setzte die oscarprämierte Schauspielerin Regina King als erste Moderatorin, gedachte an George Floyd und erklärte: Sie hätte ihre High Heels gegen Wanfrohen derschuhe eingetauscht, wenn das Urteil in Minneapolis anders ausgegangen wäre. Es wurde also tatsächlich eine andere Oscar-Verleihung – bei der mit Mia Neal und Jamika Wilson die ersten schwarzen Frauen für Make-up und Frisuren ausgezeichnet wurde, Youn Yuh-jung als zweite Asiatin seit 1957 einen Schauspiel-Oscar erhielt, Emerald Fennell als erste Frau nach 14 Jahren mit „Promising Young Woman“in der Kategorie bestes Drehbuch siegte,. in der Kategorie Kurzfilm mit „Two Distant Strangers“sich ein Beitrag über Polizeigewalt in den USA durchsetzte... und Chloé Zhao zur großen Gewinnerin wurde. Für wichtigen Botschaften hat es die große Show noch nie gebraucht.
● Weitere Oscars: Adaptiertes Drehbuch: Christopher Hampton/Florian Zeller für „The Father“
Schnitt: Mikkel E.G. Nielsen für „Sound of Metal“
Filmmusik: Trent Reznor, Atticus Ross und Jon Batiste für „Soul“
Filmsong: H.E.R. für „Fight For You“
Ton: „Sound of Metal“
Visuelle Effekte: „Tenet“
Animationsfilm: „Soul“von Pete Docter und Dana Murray
AnimationsKurzfilm: „If Anything Hap pens I Love You“von Will McCormack und Michael Govier
Dokumentarfilm: „My Octopus Teacher“Pippa Ehrlich, James Reed, Craig Foster
DokumentarKurzfilm: „Colette“von Anthony Giacchino und Alice Doyard