Ein Skalpell schneidet in die barocke Idylle
Gedenken Der Bezirk will im Kloster Irsee umfassender an die NS-Patientenmorde erinnern. Dafür soll ein Kunstwerk weichen
Irsee Es war ohne Zweifel eine einschneidende Periode in der 123-jährigen Psychiatriegeschichte des Klosters Irsee. Während der NSZeit wurden in der sogenannten Heil- und Pflegeanstalt in den Gebäuden der ehemaligen Benediktinerabtei bei Kaufbeuren über 1200 Patienten ermordet – durch Medikamente, Unterernährung, Vernachlässigung oder Deportation in die Gaskammern anderer Anstalten. Künftig will der Bezirk Schwaben, der in dem Klosterkomplex seit nunmehr 40 Jahren ein Bildungsund Kulturzentrum betreibt, vor Ort noch umfassender und durchaus auch mit plakativer Schärfe an diese Verbrechen erinnern. Ein von einem Fachbeirat erarbeitetes Konzept sieht unter anderem einen neuen Informationsraum vor. Ein umstrittenes Werk der Münchner Künstlerin Beate Passow wird dagegen nicht mehr aufgehängt.
Stefan Raueiser, Leiter der Irseer Bezirkseinrichtung, hatte sich eine überaus kundige und kritische Zuhörerschaft ausgesucht, um die neuen Pläne für das Gedenken an die Krankenmorde erstmals der Öffentlichkeit vorzustellen. Er nutzte dafür die Frühjahrstagung des Arbeitskreises zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“und Zwangssterilisation, die eigentlich im Kloster Irsee hätte stattfinden sollen. Doch coronabedingt schalteten sich die Experten aus ganz Deutschland online zusammen, um neue Aspekte der NS-Psychiatrieverbrechen zu beleuchten, vor diesem Hintergrund aber auch aktuelle ethische Fragen zu diskutieren.
Für heftige öffentliche Diskussionen hatte auch der Bezirk Schwaben gesorgt, als er 2018 daran ging, den zentralen „Euthanasie“-Gedenkort in Irsee zu verändern: die Prosektur, die einst der medizinischen Untersuchung und der Aufbahrung der Anstaltstoten diente. Erst Mitte der 90er Jahre wurde der kleine Backsteinbau im Schatten der barocken Klosterkirche wieder geöffnet. Im Inneren weist er noch größtenteils den Originalzustand samt Seziertisch auf. Um in den Räumlichkeiten einen direkten Bezug zu den NS-Verbrechen herzustellen, wurde eine Arbeit der Künstlerin Beate Passow angebracht. Eine großformatige dreiteilige Arbeit, die unter Verwendung von Patientenfotos aus dieser Zeit entstand. Dieses beklemmende Triptychon wurde aber abgenommen, weil die abgebildeten Kinder – wie inzwischen nachgewiesen – nicht in Irsee, sondern am Hauptstandort des psychiatrischen Krankenhauses im benachbarten Kaufbeuren untergebracht waren.
Zudem vermittelten die Bilder eine problematische „Täterperspektive“, wie Raueiser noch einmal bekräftigte. Argumente, die namhafte Kritiker wie auch die Künstlerin mit Verweis auf das Grundrecht der Kunstfreiheit nicht gelten lassen wollen.
Wenn die seither geschlossene Prosektur baulich und statisch wieder auf Vordermann gebracht ist, soll sie weiterhin möglichst im Urzustand als Mahnmal dienen. Das Passow-Triptychon werde dort aber keinen Platz mehr finden. Vielmehr soll, laut Raueiser, eine „Leerstelle“an das Kunstwerk und die Diskussion darüber erinnern. Ein Vorgehen, für das der Bezirk bei der Tagung unter anderem von Michael Wunder Zustimmung bekam. Der Hamburger Psychiater und früheres Mitglied des Deutschen Ethikrates bezeichnete die Entscheidung als „wirklich gut“.
Zusätzlich zum Gedenkort Prosektur, zu den Mahnmalen auf den drei Friedhofsarealen in Irsee, auf denen Patienten begraben wurden, und zu den „Stolpersteinen“vor der Klosterfassade sollen im Hauptgebäude zwei Büros zu einem 40 Quadratmeter großen Informationsraum zusammengelegt werden. Dort wird eine Ausstellung die Irseer Psychiatriegeschichte darstellen, wobei ein klarer Schwerpunkt auf der NS-„Euthanasie“liegen soll. Dies müsse jedoch vor allem anhand von Fotos, Dokumenten und eines bisher noch verschollenen NS-Propagandafilms geschehen, der nachweislich auch in Irsee gedreht wurde. Denn das Bildungszentrum verfüge kaum über entsprechende Objekte – bis auf eine original erhaltene Türe, einen historischen Ofen und ein Sezierbesteck. Letzteres hat die Ausstellungsmacher auf die Idee gebracht, dass ein überdimensionales rotes Skalpell, das in der Mauer zu stecken scheint, die barocke Idylle in den Klostergängen durchbohren und auf die Ausstellung hinweisen soll. Eine „Irritation“, die sowohl von den Tagungsteilnehmern als auch von den an der Konzeption beteiligten Fachleuten unterschiedlich beurteilt wird.
Längerfristig will auch das Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren sein Gedenken an die NS-Psychiatrieopfer verbessern. Dabei sollen vor allem die umfassenden historischen Archivbestände im dem Haus mehr in den Fokus gerückt und für Forschung und Besucher besser zugänglich gemacht werden. Eine mittelfristig anstehende Generalsanierung des Klinik-Komplexes könnte hierzu eine gute Gelegenheit bieten, berichtete der Ärztliche Direktor Albert Putzhammer den Tagungsteilnehmern.