Corona ist nicht mehr Thema Nr. 1
Porträt In der Stadt Tel Aviv haben Cafés, Restaurants und Läden wieder geöffnet. Ein Großteil der Israelis ist geimpft, die Infektionszahlen sinken. Der Tourguide Amit Grinfeld erzählt, wie sich die Rückkehr zur Normalität anfühlt
„Wer ist der schöne Mann, der mich heute am Rabin-Square angerempelt hat?“: Die Facebook-Gruppe „Secret Tel Aviv“mit fast 400000 Mitgliedern ist ein Querschnitt durch die quirlige Stadt. Sie suchen Yoga-Kurse, Hundesitter und flüchtige Bekanntschaften. Hunderte Daumen hoch, Kommentare, Witze. Dazwischen Fotos von zugeparkten Autos und verlorenen Kreditkarten. Ein paar Posts weiter stellt ein junger Mann die Frage nach Mesibot, Partys also, die am Abend steigen.
Während in Deutschland tagtäglich Inzidenzwerte durch die Nachrichten geistern, verschwindet das Coronavirus in „Secret Tel Aviv“in Nebensätzen. Israel, das kleine Land mit etwa neun Millionen Einwohnern, hat einiges erreicht: Ein Großteil der Menschen ist geimpft, die Corona-Zahlen fallen kontinuierlich, gestern lag der Sieben-TageInzidenzwert bei 11,3. Die Impfquote beträgt 62 Prozent. Seit einiger Zeit sind alle Geschäfte wieder geöffnet. Konzerte dürfen stattfinden.
Auf dem Markt in Jaffa, einem alten Stadtviertel von Tel Aviv an der Küste, fühlt sich alles normal an, erzählt Amit Grinfeld am Telefon. Der 40-Jährige ist hauptberuflicher Tourguide und kennt alle Ecken des Landes. Er schickt ein Foto von Jaffa: Menschen tummeln sich dicht gedrängt auf der Straße, ruhen sich auf Stühlen in der Sonne aus, manche mit Maske, manche ohne. „Die ganze Stadt ist wieder aufgewacht“, sagt Grinfeld.
Wie ist das passiert? Zum Ende des Sommers 2020 war Israel zeitweise das Land mit der höchsten Infektionsrate weltweit. Nach einer relativ milden ersten Welle im Frühjahr hatte sich die Lage drastisch verschlechtert. Teilweise wurden bis zu 9000 neue Fälle am Tag bekannt – bei neun Millionen Einwohnern. Die Krankenhäuser stießen an ihre Grenzen, die Politik reagierte mit scharfen Regeln und Ausgangssperren. Die Nerven lagen blank.
Eine Userin teilt ein Video von vor genau einem Jahr in „Secret Tel Aviv“. „Erinnert ihr euch?“, schreibt sie. Leere Straßen, Vorhängeschlösser baumeln vor den kleinen Läden. Tel Aviv, übersetzt „Frühlingshügel“, im Winterschlaf. Der pulsierende Carmel-Markt im Herzen der Stadt – abgesperrt. Die Strandpromenade, wo sich sonst hunderte Besucher aufhalten, sich zum Plaudern und Tanzen treffen, joggen und trainieren, wo Skateboarder über den Asphalt flitzen und die Musik von Straßenbands in der Meeresbrise weht – verlassen. Keine Menschenseele im weißen Sand und in den Wellen, die sanft ans Ufer rollen. Darunter posten die Tel Avivim, wie sie sich nennen, gebrochene Herzen.
„Es war eine schlimme Zeit“, sagt Grinfeld. Der Vater von drei kleinen Kindern stand plötzlich ohne Arbeit da. „Eine blöde Situation, so als Tourguide in der Pandemie.“Vor Corona boomte der Tourismus, jährlich brach das kleine Land seine Rekorde. Im Jahr 2019 kamen 4,5 Millionen Menschen nach Israel. Und Grinfeld brachte die Touristen, vor allem US-Amerikaner, an die schönsten Orte. In den Süden ans Rote Meer, wo Delfine durch das klare Wasser springen, zur historischen Wüstenfestung Masada, zum See Genezareth, in alle Städte, Jerusalem, Akko, Tel Aviv. Monatelang konnte er seinem Traumjob nicht nachgehen. Mittlerweile bietet er wieder kleinere Touren für Israelis an. „Ich hab’s überlebt“, sagt Grinfeld mit typisch israelischer Gelassenheit.
Ebenfalls typisch israelisch ist Grinfelds Einfallsreichtum, der ihn durch die Krise brachte. Kurzerhand eröffnet er einen kleinen Shop, verkaufte selbst geimkerten Honig und eigenes Olivenöl und lieferte Geschenkpakete mit seinem Tourbus aus. Vom Staat erhielt er für seine Ausfälle 6000 Schekel monatlich, das sind umgerechnet etwa 1500 Euro.
Die Rückkehr zur Normalität sieht Grinfeld als Gemeinschaftsleistung der Israelis. Nur ungern spricht er über Benjamin Netanjahus Verdienst in der Krise – wenn er es tut, mit vielen Flüchen auf Hebräisch. Der amtierende Premierminister steht auf wackeligem Boden. Immer weniger Israelis unterstützen „Bibi“. Der 71-Jährige ist wegen Korruption angeklagt, es geht um Betrug, Untreue und Bestechlichkeit. Im März wählten die Israelis – zum vierten Mal in zwei Jahren. In den vergangenen Jahren ist seine Beliebtheit stetig gesunken.
„Er hat wohl gewusst: Wenn er es nicht schafft, das Virus zu stoppen, ist er verratzt“, sagt Grinfeld. Er sieht die größte Leistung bei der Bekämpfung des Coronavirus jedoch nicht bei Netanjahu, sondern im Zusammenhalt der Israelis.
„Wir Israelis sind eigentlich überhaupt nicht diszipliniert“, sagt Grinfeld. „Aber in Notsituationen weiß jeder, was er zu tun hat.“In seiner freien Zeit sprang Grinfeld als Reserve-Offizier in der Armee ein. Diese habe schnell Massentests organisiert und die Impfkampagne unterstützt. Mittlerweile sind etwa 55 Prozent der Israelis komplett geimpft.
In der Facebook-Gruppe „Secret Tel Aviv“kursieren bereits Witze über den neuen Alltag. Ein Foto von einem zerstört wirkenden jungen Mann – darüber schreibt eine Frau im Scherz: „Mit den geöffneten Bars und Restaurants wird für SingleMänner alles anders. Sie können uns Frauen für das erste Date nicht mehr zu sich nach Hause einladen – weil angeblich sonst kein anderer Ort möglich ist.“
Wie sich die neue Normalität anfühlt? „Großartig“, sagt Grinfeld. Er war bereits auf einem Konzert
„Die ganze Stadt ist wieder aufgewacht“
Die Eintrittskarte ist der grüne Pass